1. August 2014
In Iwaki 磐城教会磐城市
Iwaki, ein Stadt von lt. Wikipedia früher etwa 350.000 Einwohnern, liegt ganz im Süden der Präfektur, an der Grenze zum Ibaragi-Ken. Etwa 35 km bis Fukushima Daiichi im Norden und 90 km bis zum AKW in Tokai im Süden (in der Nähe von Mito, Ibaragi-Ken). Im Vergleich zu andern Städten in der Provinz Fukushima ist Iwaki weitgehend von einer hohen Verstrahlung durch Radioaktivität verschont geblieben. Dennoch sind Tausende nach dem 11.3. in andere Landesteile geflüchtet. Die meisten sind wieder zurück. Aber es kamen sehr viele Menschen aus den verseuchten Regionen um das AKW Fukushima Daiichi. Viele von ihnen können nicht zurück, müssen auf Dauer hier bleiben oder sich eine neue „Heimat“ suchen.
Wir treffen die um ihre Kinder besorgten Mütter in der Iwaki-Kirche (1894 gegründet), wo Pfarrerin UETAKE Yuko lebt und wirkt. 120 Personen passen in die Kirchenbänke. Gleich neben der Kirche steht ein Kindergarten, der Vorbildcharakter für die ganze Region um Iwaki hat. Das Strahlenmessgerät an der Hauswand misst 0,104 mS/h. Der Spielplatz/Hof des Kindergartens sieht verwahrlost aus: Gras wuchert überall, der Sand im Hof ist nicht mit dem Rechen glattgestrichen, die Schaukelpfosten stehen unberührt. Hier spielen die Kinder nicht. Nur direkt vor dem Eingang steht ein riesiges künstliches Wasserbecken, in das am frühen Morgen frisches Wasser mit Eimern aus dem Haus eingefüllt wird.
Um 9 Uhr beginnen die Mütter zur Beratung einzutreffen. Die ersten am Vormittag gehen meist wieder nach 15-20 Minuten Gespräch mit Pfr. Kawakami. Dafür sind wir beide bereits um 4 Uhr in der Frühe aufgestanden und gegen 5 Uhr losgefahren. Frühstück gab es in der ersten Autobahnraststätte. Mein Kollege bestellt sich eine Nudelsuppe, die es nur hier gibt. Er empfiehlt sie mir aber erst nach dem Essen – für das nächste Frühstück. Drei Stunden dauert die Fahrt, Pfr. Kawakami fährt gemütlich. Gestern sind wir die Strecke mit zusätzlichen 60 km bis Katsuda in ebenfalls 3 Stunden gefahren. Aber die langsame Geschwindigkeit ist gut für die Gespräche, die wir führen. Er informiert mich quer durch die Geschichte des Kyodan, bes. durch die letzten 30 Jahre, seit ich 1984 Abschied genommen habe. Viel hat sich verändert. Die Kirche hat eine kirchenpolitische Wende durchgemacht: zu meiner Zeit hat, in der Folge des bei einem großen Teil der Pfarrerschaft und Kirchenmitglieder umstrittenen Schuldbekenntnisses von 1967 gab es die linke und die rechte Gruppe (Shakai-ha und Kyokai-ha. „Shakai“ ist Gesellschaft, „Kyokai“ ist Kirche, „ha“ ist Gruppe oder Partei), die Fronten waren klar. Fast alle Bereiche kirchlichen Glaubens und Handelns waren umstritten. Die während des 2. Weltkrieges vom Staat erzwungene Vereinigung aller protestantischen Gruppen im Kyodan (Kirchenbund) konnte nicht zu einer organischen Einheit zusammenwachsen. Bis dann in den Synoden der späten 80er und frühen 90er Jahre die konservative kirchlich orientierte Gruppe die Oberhand gewann. Heute sind die Herausforderungen andere. Vor allem die Dreifach-Katastrophe vom 11. März (3.11) 2011, vor allem mit dem neuen Problem der Radioaktivität, hat gezeigt, dass man zusammenarbeiten muss. Das zeigte sich in jüngster Zeit bes. darin, dass die Erklärung von der Internationalen Konferenz (International Conference on the East Japan Disaster, March 11-14, 2014, Sendai) die Anliegen beider Seiten in einem Dokument zusammenbringt. Ich habe das Gefühl, der Kyodan mit all den internen Spannungen hat sich auf einen neuen Weg gemacht, auf dem er dann auch angesichts der politischen Probleme Japans eine deutliche, christliche Position beziehen kann.
In Iwaki angekommen fällt mir der Kindergarten neben der Kirche auf und das Messgerät. Pünktlich um 9 Uhr kommen die beiden erste Mütter, eine hat zwei kleine Kinder dabei. Die erste Frau war mit ihrer Familie ein paar Tage am Inawashira-See, ein See in den Bergen westlich von Fukushima. Sie erzählt, wie es ihren Kindern in dieser Zeit und danach ergeht, was es an Besonderheiten gegeben hat, was sie für die Zukunft erhofft.
Die zweite Frau kommt zum ersten Mal, ihre Familien-Daten und die der Kinder werden aufgenommen. So erzählen die Mütter von ihren Erlebnissen, Schwierigkeiten, Ängsten und Hoffnungen. Als die Kinder unruhig werden, sagt ihre Mutter zu ihnen „Hier wohnt doch Gott, benehmt Euch ruhig“. Keine der Mütter ist Christ, oder gehört zu einer Kirche oder hatte selber mal eine kirchliche Vergangenheit (z.B. Kindergarten).
So kommen nun bis 12 Uhr weitere 7 Mütter. Eine erzählt von auffälligem Verhalten des kleinen Sohnes; sie selber muss sich die vielen Gerüchte, die über Radioaktivität im Umlauf sind, anhören, Ängste verstärken sich, verflüchtigen sich; soll man am Ort bleiben oder doch anderswo hin“flüchten“; wie weit muss man dann weggehen? Ist Radioaktivität die Ursache dieser oder anderer Krankheiten? Wer kann das beurteilen? Wie weit kann man den Aussagen der Behörden trauen? - Viele Fragen, aber niemand kann verlässlich eine beruhigende Auskunft geben. Auch wenn die Kontamination von den hohen Bäumen in den Bergen durch den Regen heruntergewaschen sein wird (wann wird das sein?) – dann steckt sie immer noch in der Erde und in vielen Pflanzen, die gegessen werden wollen, oder sie versickert in das Grundwasser und wird über die Flüsse in andere Gegenden ausgebreitet oder landet schließlich im Meer. Die Fische, die ich derzeit hier esse, stammen alle angeblich aus japanischem Fischfang (Dann, später, erzählt mir Prof. MIYATA Mitsuo, dass in seiner Fischhalle „deutsche“ Fische angeboten würden, wahrscheinlich aus Fischfang bei Island...).
Teilweise bleiben Frauen auch bis zu 45 Minuten, hören mit, was andere erzählen, und diskutieren die Fragen und Antworten mit. Das Projekt, das vor allem Pfr. Kawakami bearbeitet, wird von der Method. Kirche in den USA bezuschusst. So kann er jeder Mutter - ohne Ansehen der Person und der Familienumstände – 20.000,00 YEN für die kurze Erholungsreise zu Verfügung stellen. Diese Hilfe kann auch öfter gegeben werden – nur eine einfach Anhörung ist Voraussetzung. Ohne viel Verwaltungsaufwand können sich auf diese Weise monatlich etwa 40 Familien einen Kurzurlaub genehmigen. Und Pfr. Kawakami erhält nebenbei eine Menge Hinweise und Informationen über die Situation der Menschen. Es ist erstaunlich, das so viele Nicht-Christen die ansonsten so hohe Schwelle zur Kirche zu überschreiten bereit sind. (Ich erinnere mich dabei an meine erste Zeit als „Missionar“ in diesem Land, damals am Rand von Tokyo. Wenn ich eingeladen habe zum Gottesdienst am folgenden Sonntag bekam ich in der Regel ein zustimmendes und auch fröhliches „hai“ (ja) zugerufen. Aber in der Kirche ließ sich nie jemand sehen.)
Um 15 Uhr sollten alle Gespräche stattgefunden haben, daraus wurde 16 Uhr. Die letzte Mutter, die 16. an diesem Tag, war in Nagano gewesen, an der westlichen Seite der japanischen Alpen. Dort leben ihre Eltern. Nur eine der Frauen interessiert sich für den christlichen Glauben, sie bleibt eine ganze Weile im Kirchenraum still sitzen, kommt am Ende sogar zu mir und bedankt sich, obwohl sie weiß, dass ich mit dem Projekt nichts zu tun habe. Zu Kawakami sagt sie, dass sie den Weg zur Kirche suchen will. Er hatte mich allen Frauen einzeln vorgestellt als ein Kollege aus Deutschland. Keine hat sich dadurch gestört gefühlt.
Die Projektbeschreibung „Short Term Recuperation Project Proposal“ vom 30.6.2013 finden Sie hier.