Das Darmstädter Wort

Studientagung 2007: Das Darmstädter Wort

Studientagung 2007 - Woltersdorf bei Berlin

Schuldbekenntnis - Friedenszeugnis - Wächteramt.
Kirchen in Japan und Deutschland

24. - 27. September 2007

 

Das Darmstädter Wort, 1947

Das Darmstädter Wort wurde hauptsächlich von dem lutherischen Theologen Hans Joachim Iwand und dem reformierten Theologen Karl Barth, Hauptautor der Barmer Theologischen Erklärung von 1934, verfasst. Deren gemeinsam erarbeitete Fassung wurde dann von Martin Niemöller sowie Hermann Diem überarbeitet.

Anders als das Stuttgarter Schuldbekenntnis vom 19. Oktober 1945 benannte das Darmstädter Wort konkrete „Irrwege“ der Christen und Kirchen, die aus Sicht der Autoren lange vor 1933 die nötigen, auch sozialrevolutionären Gesellschaftsveränderungen blockiert und so dem Nationalsozialismus den Weg zur Macht geebnet hatten. Damit wollte es das Verhältnis von Kirche und Staat nach nahezu 400 Jahren protestantischer Staatskirchen-Tradition neu bestimmen. Die nur dem Evangelium verpflichtete Kirche sollte Anwalt der Armen und der Völkerversöhnung werden. Sie sollte so dem „Aufbau eines besseren deutschen Staatswesens“ dienen: Damit wollten die Autoren das Ziel eines gesamtdeutschen Demokratischen Sozialismus als Zukunftsaufgabe festhalten, das der damals begonnene Kalte Krieg unerreichbar werden ließ.

Das Darmstädter Wort wurde nicht vom gesamten Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) anerkannt. Es bildete jedoch ab 1969 eine wichtige theologische Basis für den Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR.

[unten der Vortrag von Martin Stöhr am 22.6.2007 in Darmstadt]


Wortlaut

Wort zum politischen Weg unseres Volkes

1. Uns ist das Wort von der Versöhnung der Welt mit Gott in Christus gesagt. Dies Wort sollen wir hören, annehmen, tun und ausrichten. Dies Wort wird nicht gehört, nicht angenommen, nicht getan und nicht ausgerichtet, wenn wir uns nicht freisprechen lassen von unserer gesamten Schuld, von der Schuld der Väter wie von unserer eignen, und wenn wir uns nicht durch Jesus Christus, den guten Hirten, heim rufen lassen auch von allen falschen und bösen Wegen, auf welchen wir als Deutsche in unserem politischen Wollen und Handeln in die Irre gegangen sind.

2. Wir sind in die Irre gegangen, als wir begannen, den Traum einer besonderen deutschen Sendung zu träumen, als ob am deutschen Wesen die Welt genesen könne. Dadurch haben wir dem schrankenlosen Gebrauch der politischen Macht den Weg bereitet und unsere Nation auf den Thron Gottes gesetzt. - Es war verhängnisvoll, daß wir begannen, unseren Staat nach innen allein auf eine starke Regierung, nach außen allein auf militärische Machtentfaltung zu begründen. Damit haben wir unsere Berufung verleugnet, mit den uns Deutschen verliehenen Gaben mitzuarbeiten im Dienst an den gemeinsamen Aufgaben der Völker.

3. Wir sind in die Irre gegangen, als wir begannen, eine „christliche Front“ aufzurichten gegenüber notwendig gewordenen Neuordnungen im gesellschaftlichen Leben der Menschen. Das Bündnis der Kirche mit den das Alte und Herkömmliche konservierenden Mächten hat sich schwer an uns gerächt. Wir haben die christliche Freiheit verraten, die uns erlaubt und gebietet, Lebensformen abzuändern, wo das Zusammenleben der Menschen solche Wandlung erfordert. Wir haben das Recht zur Revolution verneint, aber die Entwicklung zur absoluten Diktatur geduldet und gutgeheißen.

4. Wir sind in die Irre gegangen, als wir meinten, eine Front der Guten gegen die Bösen, des Lichts gegen die Finsternis, der Gerechten gegen die Ungerechten im politischen Leben und mit politischen Mitteln bilden zu müssen. Damit haben wir das freie Angebot der Gnade Gottes an alle durch eine politische, soziale und weltanschauliche Frontenbildung verfälscht und die Welt ihrer Selbstrechtfertigung überlassen.

5. Wir sind in die Irre gegangen, als wir übersahen, dass der ökonomische Materialismus der marxistischen Lehre die Kirche an den Auftrag und die Verheißung der Gemeinde für das Leben und Zusammenleben der Menschen im Diesseits hätte gemahnen müssen. Wir haben es unterlassen, die Sache der Armen und Entrechteten gemäß dem Evangelium von Gottes kommendem Reich zur Sache der Christenheit zu machen.

6. Indem wir das erkennen und bekennen, wissen wir uns als Gemeinde Jesu Christi freigesprochen zu einem neuen, besseren Dienst zur Ehre Gottes und zum ewigen und zeitlichen Heil der Menschen. Nicht die Parole: Christentum und abendländische Kultur, sondern Umkehr zu Gott und Hinkehr zum Nächsten in der Kraft des Todes und der Auferstehung Jesu Christi ist das, was unserem Volk und inmitten unseres Volkes vor allem uns Christen selbst Not tut.

7. Wir haben es bezeugt und bezeugen es heute aufs neue: „Durch Jesus Christus widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen.“ Darum bitten wir inständig: Lasst die Verzweiflung nicht über euch Herr werden, denn C h r i s t u s ist der Herr. Gebt aller glaubenslosen Gleichgültigkeit den Abschied, lasst euch nicht verführen durch Träume von einer besseren Vergangenheit oder durch Spekulationen um einen kommenden Krieg, sondern werdet euch in dieser Freiheit und in großer Nüchternheit der Verantwortung bewusst, die alle und jeder einzelne von uns für den Aufbau eines besseren deutschen Staatswesens tragen, das dem Recht, der Wohlfahrt und den inneren Frieden und der Versöhnung der Völker dient.

(Quelle: Kirchliches Jahrbuch 1945-1948, Gütersloh 1950, S. 220 ff.). Aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Darmstädter_Wort

 

Prof. Dr. Martin Stöhr, Bad Vilbel

Irrwege der Kirche und des deutschen Volkes

Zum Darmstädter Wort des Bruderrates der Bekennenden Kirche

vom 8. August 1947

Vortrag in Darmstadt - Michaelsgemeinde - Nacht der Kirchen
- am 22. Juni 2007

I. Menschen gehen Wege oder Irrwege

Einer der Mitinitiatoren des Darmstädter Wortes, Karl Barth, traf sich nach dem Krieg mit seinem Kollegen Helmut Thielicke, der in Deutschland die Nazizeit überlebte, seine Universitätslaufbahn, nicht aber sein Pfarramt verlor. Er will Karl Barth deutlich machen, dass Barth in der Schweiz doch wohl relativ bequem überlebt habe. Um Eindruck zu machen und das Teuflische der Nazis zu veranschaulichen, erzählte er "Wir aber haben in Deutschland den Dämonen ins Auge geblickt". Darauf trocken Karl Barth: "Die werden dann aber fürchterlich gezittert haben! Nach einer Pause: Warum sagt ihr nicht: ,Wir sind politisch dumm gewesen’“? Das Darmstädter Wort will die politische Dummheit, genauer die politischen Irrwege benennen, die in Deutschland zu einer Regierung führten, die einen Weltkrieg entfesselte, nach dessen Ende 50 Millionen Menschen sinnlos ermordet und Abermillionen zu Krüppeln und Flüchtlingen geworden waren. Halb Europa lag in Schutt und Asche. Der Machtbereich der Sowjetunion reichte bis an die Elbe. Das vor 1933 nie verschwiegene Konzept der deutschen Regierung beruhte auf einer Rassenideologie, die Juden und Bolschewisten, Slawen und sog Zigeuner, Behinderte und Homosexuelle zu Untermenschen, die Deutschen aber zu reinrassigen Herrenmenschen ernannte. Martin Heidegger brachte es 1933, als er zum Rektor der Freiburger Universität gewählt worden war, in seiner Rektoratsrede auf den Punkt: "Wir wollen uns selbst!" Dabei rief er die akademische Jugend zum ,,Arbeitsdienst, Wehrdienst und Wissensdienst" auf. Über dem Hauptportal dieser Universität steht das ebenso unerhörte wie ungehörte Wort des Juden Jesus von Nazaret ,,Die Wahrheit wird euch freimachen!" (Joh 8,32). Ich nenne den großen Philosophen und nicht fanatischen Nationalsozialisten Heidegger, weil an ihm wie an Schulen und Hochschulen, Ärzte- und Handwerkskammern, Sport und Gesangvereinen, Kirchen und Gewerkschaften, Industrie und Verwaltung, Kultur und Medien die rasche Gleichschaltung in der deutschen Gesellschaft zu studieren ist. Erschreckend viele funktionierten so, wie die Autoritäten es wünschten oder erzwangen - oft, ohne Nazi zu sein. Es genügte, als Fachmann seine Dienste zur Verfügung zu stellen.

Die deutsche Regierung wurde ab 1933 von einer großen Koalition aus NSDAP und konservativer Deutschnationaler Volkspartei gestellt, die bevorzugten Parteien protestantischer WählerInnen. Eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung aus allen Schichten hatte diese Regierung gewählt. Sie wurde bis zu den Siegen über die östlichen und westlichen Nachbarn am Anfang des zweiten Weltkrieges auch mehrheitlich bejubelt oder geduldet, obwohl schon in den ersten Wochen 1933 die Grundrechte der Menschen abgeschafft wurden, die Opposition verhaftet oder vertrieben wurde, die jüdische Minderheit verfolgt und später ermordet wurde, das Völkerrecht gebrochen.

Das Darmstädter Wort suchte einen Weg in die Freiheit aus den Irrwegen, die in ein Gefängnis der Schuld geführt hatten. Es stellte klar, dass das NS-Regime kein Schicksal, weder ein dämonisches noch ein Naturereignis war, dem man sich macht- und wehrlos unterwerfen musste. Es war von einer hinreichenden Zahl Deutscher gewollt, organisiert oder hingenommen worden.

Das Darmstädter Wort macht deutlich, dass die Irrwege nicht erst 1933 begannen. Die von ihm angesprochene nationale Machtpolitik, Frontenbildung der "Guten gegen die Bösen", das Konservieren von inhumanen Strukturen und Verhaltensweisen sowie die Vernachlässigung der „Armen und Entrechteten“ gab es auch vor 1933 schon. Die Nazis erfanden keine neue Weltanschauung, sie fanden alle Elemente dessen vor, was sie so nannten. Sie mussten ihr politisches Konzept nur bewaffnen und durch Täter und Mitläufer realisieren. Nicht nur Nazis zogen eine Linie von Luther über Friedrich dem Grossen, Bismarck zu Hitler. Das Darmstädter Wort fragt dagegen scharf, woher wir kommen und zugleich, welche verführerische Kraft diese Irrwege nach 1945 noch haben können.

Die Geschäftsführung des Bruderrates war mit ihrem Geschäftsführer Herbert Mochalski nach 1945 in Darmstadt gelandet. Hier traf man sich im Juli 1947, um zu überlegen: Wie könnte eine radikale Umkehr von den verhängnisvollen Wegen der Kirche und des Volkes aussehen? Dazu gehörte u.a. Hans Joachim Iwand, ein ostpreußischer Theologe, heimatvertrieben, der die Versöhnung mit den osteuropäischen Nachbarn zu seiner Lebensaufgabe machte. Ihn hatten die Nazis aus seiner Stelle in Königsberg gejagt und auch verhaftet. Da ist Martin Niemöller zu nennen, der 1937 bis 1945 im Zuchthaus und KZ überlebt hatte oder Ernst Wolf, der seine Stelle an der Universität Halle verloren hatte - alle, weil sie zu der kleinen Minderheit der Bekennenden Kirche gehört hatten. Anstöße hatte der 1935 aus Bonn nach Basel abgeschobene Schweizer Theologe Karl Barth gegeben. Entwürfe von Iwand, Niemöller und aus Württemberg lagen vor. Vier Wochen später wurde am 7. und 8. August das Wort ausführlich beraten und verabschiedet.

II Zur Situation 1947

Das Jahr 1947 kennzeichne ich durch einige Faktoren: Einmal: Ein Hunger- und Kältewinter lag über ganz Europa, nicht nur über Deutschland. Millionen Europäer waren auf der Flucht oder wurden vertrieben, viele erlebten den völligen Verlust ihrer Angehörigen oder aller Lebensgrundlagen.

Zum anderen sagten sich viele Deutsche: Ich werde mich nie wieder politisch engagieren, nachdem ich einmal nichts gemacht, mitgemacht oder weggeschaut habe. Viele konzentrierten sich auf den Wiederaufbau zerstörter Existenzen, Häuser und Infrastrukturen. Wenige investierten Kraft und Kreativität in eine nüchterne Praxis der politischen Verantwortung.

Drittens liefen der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, die 1946 mit der Verurteilung der Hauptkriegsverbrecher aus Partei, Staatsführung und Wehrmacht begonnen hatten. 1947 wurde gegen Ärzte, Juristen und Wirtschaftsführer wegen ihrer Verbrechen verhandelt. Nicht wenige hielten das für Siegerjustiz gegen Führungskräfte, die nur ihre Pflicht getan hatten. Wenige sahen die Notwendigkeit dieser Rechts- und Wahrheitsfindung im Interesse der Opfer und eines neu aufzubauenden Rechtsstaates ein. Zur gleichen Zeit wurde die Entnazifizierung zurückgefahren, schließlich wurden wieder für alle Lebensbereiche alte Nazis und Mitläufer gebraucht.

Viertens: Im März 1947 hatte der us-amerikanische Präsident Truman seine sog Truman-Doktrin verkündet. Der Ausgangspunkt waren die gemeinsamen Beschlüsse der vier Siegermächte in Jalta und Potsdam Sie teilten Europa in einen westlichen und einen östlichen Machtbereich. Dazu gehörten für Truman und die Westmächte nicht nur der Marshall-Plan zum westeuropäischen Wiederaufbau der Wirtschaft, - sondern auch die Bemühung rechtsstaatliche und demokratische Strukturen in den Westzonen einzuführen. Mit diesem Programm war aber auch der Auftakt des Kalten Krieges verbunden. Der startete unter dem Stichwort "Containment", das bedeutet ein Eindämmen des Kommunismus auf seinen ihm in Jalta und Potsdam zugestandnen Herrschaftsbereich. Folglich durften Westeuropa und Westdeutschland mit ihren Industriepotentialen nicht an den sich rasch verfestigenden Ostblock fallen. Das blieb eine von allen Großmächten bis zur Selbstbefreiung Ostmitteleuropas 1989 respektierte Realität, in der die Aufstände 1953 in der DDR, 1956 in Polen und Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei nicht passten. Im 1947 beginnenden Kalten Krieg verlegte man die Stellvertreterkriege der beiden Großmächte um die Weltherrschaft in die sog. Dritte Welt. Ost- wie Westeuropa sollte für die Vormächte beider Blöcke mit seinem wirtschaftlichen und militärischen Potential im status quo erhalten und nützlich bleiben. Diese Konfrontation verlangte nach simplen Feindbildern.

Eine Selbstbefreiung des deutschen Volkes von der Nazidiktatur war nicht gelungen. Der höchst ehrenvolle Widerstand weniger gegen den Nationalsozialismus blieb zu schwach. Die Befreiung Europas und Deutschlands von der deutschen Naziherrschaft geschah militärisch - durch ein Bündnis der demokratischen Westmächte mit der Sowjetunion. Die vier Alliierten waren unsere „Befreiungsbewegung“.

III. Der Weg in die Freiheit

Hatte der Weg in die Diktatur lange vor 1933 begonnen, so machte das Darmstädter Wort deutlich, dass der Weg zu einem Neuanfang in Freiheit und Recht auch lang ist. Er verlangte von der Christenheit eine klare Rückbesinnung auf den Inhalt ihrer Botschaft und eine dementsprechende Nachfolge Christi sowie eine Befreiung von der Schuld an Weltkrieg und Völkermord. Nur befreite Menschen können neu anfangen. Tödlich ausgefahrene Geleise sollen nicht noch einmal verführerisch werden. Deswegen müssen klar die Irrwege markiert werden. Die Überlebenden und Nachgeborenen können nicht über alle Opfer und über die Gründe ihres Todes einfach das Gras der Verdrängung und des Vergessens wachsen lassen. Es ging um eine doppelte Befreiung:

Einmal die Befreiung von der Schuld, sich durch gottlose Bindungen unfrei machen zu lassen. Diese, im Grunddokument der Bekennenden Kirche 1934 genannte Befreiungsaufgabe, stand gegen eine Fesselung an Verzweiflung, Angst oder Anpassung. Die christliche Gemeinde ist nur an Christus gebunden und nicht an alle möglichen Autoritäten, Einstellungen oder Gefälligkeiten. Diese gottlosen Bindungen lassen mich schuldhaft den freien, dankbaren Dienst an Gottes Geschöpfen verweigern. Unser Leben schulden wir nicht nur uns selbst, sondern Gottes Geschöpfen. Eine Dienstverweigerung gegenüber dem Doppelgebot der Liebe und den biblischen Hauptworten Recht und Gerechtigkeit begann mit einer Verzweiflung, die sich nur selber sieht, mit glaubensloser Gleichgültigkeit, als ginge mich nichts an, was öffentlich und politisch geschieht. Wir laden Schuld auf uns durch Träume von einer besseren Vergangenheit, durch die Illusion, dass früher alles besser war. Hinzu kommen die Spekulationen über einen kommenden Krieg (7). Könnten wir Deutsche nicht stolz darauf hinweisen, dass wir gegen den Kommunismus schon gekämpft hatten als die Westmächte noch mit ihm verbündet waren? Jetzt, verbündet mit westlichen Armeen gegen den schon immer verachteten Feind im Osten zu ziehen, vermittelte manchem das Gefühl: Wir sind wieder wer. Das vor und nach 1933 höchst vitale antikommunistische Feindbild schien aus allen Verunsicherungen der eigenen Identität zu helfen.

III.1 Der Auftrag der christlichen Gemeinde in unserer Gesellschaft

Eine christliche Gemeinde lebt in der realen Welt und für die Welt so, dass Menschen und Verhältnisse sich ändern ohne Propaganda und ohne Gewalt. In welcher Richtung? Orientiert an welchen Zielen? Sie lebt nicht für sich selbst. Im Supermarkt der Religionen und Weltanschauungen beliefert sie nicht jene Regale, auf denen ich das mir Passende zur Befriedigung meiner religiösen Bedürfnisse auswähle.

Hinter den Grundgedanken des Darmstädter Wortes steckt die ebenso bescheidene wie anspruchsvolle Erinnerung: Da gibt es eine Stimme mitten in der Wirklichkeit der Welt, die hörbar und wichtig ist: Sie nennt nach Paulus die Voraussetzung und die Folgen des christlichen Lebens. Uns ist das Wort von der Versöhnung der Welt mit Gott in Christus gesagt. (2Kor.5,17ft). Versöhnung nach soviel Hass, Misstrauen und Zerstörung?

Offensichtlich ist vieles in der Welt zu Bruch gegangen - nicht nur die Beziehung der Menschen zu Gott. Auch die Beziehung der Menschen zu ihren Mitmenschen, der Völker oder Gruppen untereinander. Heilung erfolgt durch Umkehr zu Gott und Hinkehr zum Nächsten (6). Die christliche Gemeinde hat sich diese Freiheit, die sie hat, immer wieder neu zu nehmen. Sie wird sich so in großer Nüchternheit der Verantwortung bewusst, die alle und jeder einzelne von uns für den Aufbau eines besseren deutschen Staatswesens tragen, das dem Recht, der Wohlfahrt und dem inneren Frieden und der Versöhnung der Völker dient (7).

Von Martin Niemöller, vor genau 70 Jahren verhaftet, bis 1945 im KZ, vor 60 Jahren einer der Mitverfasser des Darmstädter Wortes und als erster Kirchenpräsident der EKHN 1947 gewählt, hörte ich öfter den Satz, dass er nach dem fürchterlichen Krieg nicht mehr nur Martin Luthers Frage "Wie kriege ich einen gnädigen Gott?" allein verkünden könne, sondern wie die ganze Kirche auch die Frage beantworten müsse: ‚Wie kriegen wir einen "gnädigen Nächsten"’? Das schließt die Frage ein: wie verhindern oder vermindern wir für unsere Mitmenschen "gnadenlose Verhältnisse" und einen gnadenlosen Umgang der Menschen untereinander?

Von diesem positiven Ansatz aus hält das Darmstädter Wort unser deutsches Staatswesen für verbesserbar. Zwei Jahre später hatten wir mit dem Grundgesetz eine sehr gute Verfassung. Aber wir können nicht sagen, dass unsere Bundesrepublik für alle seine Bewohner auch in guter Verfassung ist. Der Aufbau eines besseren deutschen Staatswesens, der damals begann, ist heute keineswegs abgeschlossen.

Worte und Taten der Christinnen und Christen, der Gemeinden und Kirchen sind daran zu messen, ob sie dem Recht dienen, dem Recht der Flüchtlinge und dem der Eingeborenen, der Inländer und der Ausländer, der "Mühseligen und Beladenen", der Armen und der "Überflüssigen" (Sigmunt Bauman), durch Rassen- , Klassen- oder Wirtschaftspolitik überflüssig gemachten Menschen. Dient unser Staat der Wohlfahrt aller? Was steuern die christlichen Gemeinden zur Wohlfahrt und zu einer besseren Sozialpolitik des Staates bei? Die Frage ist unbequem, weil sie uns zur Beobachtung der sozialen Wirklichkeit zwingt - und das unter der Fragestellung, ob wirklich alle zu ihrem Recht kommen und ob alle am Wohlstand unseres Landes teilhaben, das eines der reichsten Länder dieser Erde ist. 2 Millionen Kinder wachsen hierzulande unter der Armutsgrenze auf. Geht nicht die Schere zwischen arm und reich national wie international immer weiter auseinander? 35 Millionen Menschen fallen jährlich der Massenvernichtungswaffe "Hunger" zum Opfer.

III.2 Schuldbekenntnis und Schulderkenntnis befreien

In jedem Gottesdienst und in vielen Gebeten wird menschliche Schuld vor Gott und der christlichen Gemeinde ausgesprochen. Das Stuttgarter Schuldbekenntnis 1945 hatte den deutschen Kirchen den Weg in die weltweite Christenheit durch den Satz geöffnet: "Durch uns ist unendliches Leid über viele Volker und Länder gebracht worden!". Das Darmstädter Wort spricht realistisch von der Schuld der Kirche und des deutschen Volkes. Die Schuld des Antisemitismus wurde im Darmstädter Wort nicht ausgesprochen. Erst 1948 nahm der Bruderrat in einer mehr als peinlichen Erklärung Stellung gegen den Antisemitismus und für Judenmission. "Indem Israel den Messias kreuzigte, hat es seine Erwählung und Bestimmung verworfen." Es steht unter Gottes Gericht - den Christen zur Warnung, den Juden zur Mahnung!

Kirchen wie Völker sind nicht gegen Irrtum gefeit. Eine solche Aussage über Irrtum und Schuld kann ich mir erträglich machen. wenn ich sie in der gängigen Münze eines Sprichwortes zitiere: „nobody is perfect“, Irren ist halt menschlich. Jeder hat Dreck am Stecken. Oder in biblischer Sprache "Wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den wir vor Gott haben sollten" (Rö 3,23). Den letzten Satz benutzte auch Ministerpräsident Filbinger, als der Schriftsteller Rolf Hochhuth ihm nachgewiesen hatte, er habe noch nach dem Kriegsende 1945 an Todesurteile gegen junge Matrosen mitgewirkt. Andere wollten sich von Schuld dadurch befreien, dass sie auf die Befehlsgeber zeigten und sich als bloße Befehlsempfänger selbst frei sprachen. Wieder andere zeigten auf die "Anderen", die seien nicht besser.

Schon während des Krieges hatte Bischof Wurm 1943 geschrieben: An dieser Schuld ... sind alle Völker beteiligt, da ist nicht einer der gerecht ist, auch nicht einer. Auch unser deutsches Volk ... hat große Schuld auf sich geladen durch die Art, wie der Kampf gegen Angehörige anderer Rassen und Völker ... geführt worden ist. Hier wird Schuld zwar eingestanden, aber nur mit dem Zusatz, dass auf der Angeklagtenbank auch die anderen sitzen, da alle immer schuldig werden.

Schon zwei Jahre vorher, als Blitzsiege gefeiert wurden, hatte Bonhoeffer sehr viel selbstkritischer geschrieben: Das Bekenntnis der Schuld geschieht ohne Seitenblicke auf die Mitschuldigen ... Wo noch gerechnet und abgewogen wird, dort tritt die unfruchtbare Moral der Selbstgerechtigkeit an die Stelle des Schuldbekenntnisses angesichts der Gestalt Christi (Ethik 126f). Und dann geht Bonhoeffer die zehn Gebote mitsamt seiner und der Kirche Praxis. Aufklären, erleuchten lässt er sich durch Christus, das Licht der Welt, das auch unsere Schattenseiten ans Licht bringt. Er schreibt 1941 in der Illegalität: Die Kirche bekennt, die willkürliche Anwendung brutaler Gewalt, das leibliche und seelische Leiden unzähliger Unschuldiger, Unterdrückung, Hass, Mord, gesehen zu haben ohne ihre Stimme für sie zu erheben, ohne Wege gefunden zu haben, ihnen zu Hilfe zu eilen. Sie ist schuldig geworden am Leben der Schwächsten und Wehrlosesten Brüder Jesu Christi. (Ethik 130). Gott konnte angerufen und gelobt werden, die Verkündigung des ewigen Heils war nicht behindert. Doch zugleich ließ uns das zeitliche Heil der Menschen, ihr Wohlergehen gleichgültig.

Aber neben der Einebnung jeder Schuld in allgemeine Schuldgefühle oder in die Schuld der Anderen ist das biblische Schuldverständnis durch eine zweite Denkweise gefährdet worden. Schon während des Krieges hatte der aufrechte Mitstreiter im Bruderrat der Bekennenden Kirche, Hans Asmussen, darauf bestanden, dass Schuld nur "priesterlich" vor Gott und keineswegs öffentlich vor den Menschen ausgesprochen werden dürfe.

IV DIE IRRWEGE

IV.1 EINE DEUTSCHE LEITKULTUR

Als erster Irrweg wird eine Selbstüberschätzung deutscher Kultur und nationaler Geltung genannt. 1947 drohte ein neuer Nationalismus aus Selbstrechtfertigung und Trotz. Viele sahen mit nationaler Brille nur das eigene Leid. Aber wie kam es, dass das selbst ernannte Volk der Dichter und Denker sich hatte einreden lassen, es sei unter den Völkern etwas Besonderes? In der antisemitischen Rassentheorie wurde diese Haltung zugespitzt: Die Germanen seien als Arier allen anderen Völkern an Rassereinheit und Tüchtigkeit überlegen. (Nebenbei bemerkt: Die Araber als Verbündete, obwohl Semiten, fielen nicht unter den mörderischen Antisemitismus. Die wirklich reinrassigen Arier, die aus dem Himalayagebiet stammenden Roma und Sinti, waren dagegen zur Ausrottung, ein paar Familien für Forschungszwecke in Menschenzuchtfarmen bestimmt. Es fanden sich genügend Wissenschaftler und Publizisten, die diesen Unsinn unters Volk brachten.)

In seinem Theaterstück „Des Teufels General“ von 1945 verspottete der aus Rheinhessen vertriebene Dichter Carl Zuckmayer diese Angst vor den Anderen und vor einer Überfremdung. Er beschreibt, wer zu uns und wer hierher gehört.

Da war ein römischer Feldhauptmann, ein schwarzer Kerl, braun wie ne reife Olive, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht. Und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie, das war ein ernster Mensch, der ist noch vor der Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet. Und dann kam ein griechischer Arzt dazu, oder ein keltischer Legionär, ein Graubündener Landsknecht, ein schwedischer Reiter, ein Soldat Napoleons, ein desertierter Kosak, ein Schwarzwälder Flößer, ein wandernder Müllerbursch vom Elsass, ein dicker Schiffer aus Holland, ein Magyar, ein Pandur, ein Offizier aus Wien, ein französischer Schauspieler, ein böhmischer Musikant - das hat alles am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen und gesungen und Kinder gezeugt - und - und der Goethe, der kam aus demselben Topf, und der Beethoven; und der Gutenberg, und der Matthias Grünewald, und - ach was, schau im Lexikon nach. Es waren die Besten, mein Lieber! ... Und warum? Weil sich die Völker dort vermischt haben.

Soviel zur deutschen Leitkultur, die durch andere Leitkulturen reicher und nicht bedroht wird. Nationalismus wächst heute wieder auf der rechten Seite und in der Mitte unserer Gesellschaft wie die Zahl nationalistischer und ausländerfeindlicher Gewalttaten zeigen. Die Gefahr, die eigene Nation und Kultur mit Staatsgewalt auf den Thron Gottes zu setzen, ist so nicht gegeben. Aber es wachsen undemokratische Einstellungen, Der Schrei: "Deutschland den Deutschen!" ist nur ein Spitzenton über vielen Untertönen. Ein Viertel der Deutschen zeigt antisemitische und ausländerfeindliche Vorurteile. zwei Drittel antiislamische und antiziganische. Die Fussballweltmeisterschaft hat den Nationalismus hierzulande verstärkt. Auf der anderen Seite wollen viele den Staat aus der Wirtschafts- und Sozialpolitik herausdrängen. Ein starker Staat zeigt sich nach innen mehr als Überwachungsstaat und im Umgang mit kritischen Demonstranten, nach außen in militärischer Machtentfaltung, z.B. bei Auslandseinsätzen an 11 verschiedenen Orten der Welt. Gerechtfertigt wird das - laut Weißbuch des Verteidigungsministeriums von 2006 - mit der Sicherung gegen den internationalen Terrorismus und die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen" sowie der Sicherung "eines freien und ungehinderten Welthandels zur Sicherung unseres Wohlstands".

Genau davor warnte 1947 das Darmstädte Wort und plädierte dafür, die uns Deutschen verliehenen Gaben einzusetzen "im Dienst an den gemeinsamen Aufgaben der Völker". Die Auslandseinsätze kosteten in den Jahren 1992 - 2005 etwa 8,78 Mrd €, Gelder die der Wohlfahrt der eigenen Gesellschaft wie der Gerechtigkeit für die ärmsten Volker fehlen. Zur militärischen Machtentfaltung von heute gehören aber die Produktion und der Export von Waffen. Deutschland ist auf Platz drei der weltbesten Waffenhändler - nach USA und Russland. Die G8 Staaten gaben 2005 siebenmal mehr für Militär aus als für Entwicklungszusammenarbeit. Der soziale Friedensdienst, seit 1999 vom BMZ gefordert, verfügt über ganze 17 Mio. Jahresetat.

Der Irrweg bewaffneter Nationen wird in europäischer und transatlantischer Einbindung Deutschlands fortgesetzt, auch wenn der unvergleichliche Irrsinn der Nazis nicht wiederholt wird.

IV.2 ANGST VOR ERNEUERUNG

Es mutet schon seltsam an, dass eine evangelische, sich auf das Evangelium berufende, eine protestantische, sich 1529 auf das Recht der Freiheit berufende, eine reformatorische Kirche Angst vor Reformen hat, vor revolutionären Reformen. Sie trat einst an mit dem Wort "ecclesia semper reformanda" - die Kirche ist immer neu zu reformieren. Stattdessen fanden und finden sich unter Christen besonders viele Verteidiger dessen, was schon immer war. Es ist klar: Was an Reform verweigert wird, kommt als Revolution zurück. Das galt zu Luthers Zeiten im Blick auf die von Luther unterstützten Forderungen der Bauern nach Recht und Gerechtigkeit, nach Freiheit von Fronarbeit und Leibeigenschaft. Als es ernst wurde, schlug Luther sich auf die Seite der Obrigkeiten. Die europäischen Staatskirchen nach der Reformationszeit waren Bollwerke gegen die Menschenrechte, wie die mittelalterlichen Kirchen im Grunde seit Konstantin. Sie erlaubten Religionsfreiheit - ein Grundrecht der Menschenrechte - nur in einem Rahmen, den die Obrigkeit vorgab. Cuis regio, eius religio - das war die Formel zur Entmündigung der einzelnen Glaubenden. Sie trat erst in Kraft, nachdem die Staaten nach einem 30jährigen Krieg einen Religionsfrieden nach ihren Interessen erzwangen.

Immer hatte die real existierende Religion versucht, mit Kreuzzügen die Reformbewegungen z.B. der Katharer, Waldenser, von Wiclif, Hus und Comenius, von Luther und Calvin mit Gewalt auszutreten. So gewiss ist, dass Revolutionen nicht notwendig mit Gewalt verbunden sein müssen, so gewiss ist, dass es keine gewaltfreien Diktaturen gibt. Aber ebenso gewiss ist, dass erfolgreiche Umstürze auch versucht sind, ihrerseits nach ihrem Sieg nicht auf Gewalt zu verzichten.

Es wundert nicht, dass die Menschenrechte in der Französischen Revolution gegen die Katholische Kirche durchgesetzt werden mussten. Wo es demokratische Revolutionen gab (Holland 1581, England 1681) wurde die Achtung der Minderheiten und Menschenrechte grösser. Die im nordamerikanischen Unabhängigkeitskampf entwickelten Menschenrechte entstammten dem Geist und der Praxis jener protestantischen Minderheitskirchen, die ein europäisches, auch protestantisches Staatskirchentum zur Auswanderung zwang.

Gott sei wahrhaftig Dank, dass es immer wieder ChristInnen gab, die in Minderheitenpositionen an revolutionären Umwandlungen versteinerter Verhältnisse sich beteiligten. Sie verrieten nicht die christliche Freiheit, die uns erlaubt und gebietet, Lebensformen abzuändern, wo das Zusammenleben der Menschen solche Wandlung erfordert. Sie wollten keine Entwicklung zur Diktatur dulden, die Menschen körperlich und seelisch vergewaltigt. In allen mittelalterlichen Reformbewegungen bis zu Martin Luther King, bis zu den Befreiungstheologien Lateinamerikas; bis zur friedlichen Revolution 1989/90 in Osteuropa und Südafrika und Namibia waren und sind Menschen am Werk, die die revolutionierende Seite des Christentums ernst nahmen. Ihr großes Problem war oft, dass auf der Seite staatlicher oder wirtschaftlicher Gewalt auch Christen an der Ausübung oder Duldung von Unterdrückung beteiligt waren.

Man wird sagen müssen, dass es nicht nur Staaten oder Staatenbündnisse sind, die diktatorisch werden, sondern auch Wirtschaftssysteme, die das Zusammenleben der Menschen nicht fördern. Wenn wir das Darmstädter Wort in unsere Gegenwart ziehen, dann sehen wir: Die Kluft zwischen arm und reich wird in unserem Land und erst recht weltweit grösser. Das herrschende Weltwirtschaftssystem öffnet den reichen Nationen die Märkte der armen Länder, verschließt diesen aber unseren Markt weithin. Es setzt billige Preise für die Rohstoffe der armen Länder durch und hohe Preise für die eigenen Produkte. Unser Wirtschaftssystem heißt "Soziale Marktwirtschaft". Sie handelt aber als freie, d.h. in diesem Fall als entfesselte Marktwirtschaft - vor allem weltwirtschaftlich. Sie globalisiert Gelder, Informationen, Reisen und Waffenhandel der Reichen, aber nicht eine gerechtere Verteilung von Lebenschancen, Bildung, Wasser und Lebensmittel. Sie ist für viele erfolgreich, setzt aber die sozialen Regeln eines jeden Marktes außer Kraft. Um das Recht der Stärkeren nicht die Regeln liefern zu lassen, müssen alle Marktteilnehmer gleiche Rechte haben. Das ist Grundlage und Ziel eines Marktes, der alle Güter allen Menschen zugänglich zu machen. Das verlangt eine Kontrolle der Mächtigen, damit keine Monopole oder Oligopole entstehen.

IV.3 FEINDBILDER

Das Darmstädter Wort warnte 1947 vor einer christlichen Frontenbildung, die das Christentum zum Kennzeichen eines Lagers im Kalten Krieg machte. Aus der Ineinssetzung von Christentum und abendländischer Kultur wurde dann eine Ineinssetzung von westlichen und christlichen Interessen - politisch und wirtschaftlich. Das Christentum lässt sich aber für keine politische Konzeption vereinnahmen, auch nicht für den Kampf gegen den Kommunismus. Es ist frei, alles zu prüfen und das Gute zu behalten, wie Paulus schreibt. Es verdankt seine Freiheit der Bindung an Gott und seinen Christus. Es hat sein eigenes Konzept von nüchterner Weltverantwortung, um das Geschenk einer Freiheit zur Versöhnung und Gerechtigkeit zu praktizieren. Es ist nicht dazu da, politische Fronten zu verstärken und der einen oder der anderen Seite religiöse Munition zu liefern. Ab 1947 entstand die unsägliche Parole: "Lieber tot als rot". Die tat so, als ob in „roten“ Ländern nicht auch Menschen, auch Christen lebten und leben könnten. Diese Parole suggerierte die Vorstellung, als sei das westliche Politik- oder Wirtschaftssystem, weil angeblich christlich, eine Norm für alle anderen Länder. Wenn ich das so sage, dann kann ich auf das Schuldbekenntnis hinweisen, dass die us-amerikanischen Kirchen im letzten Jahr vor der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen der Welt (in Porto Alegre) ablegten. Es war verbunden mit einer scharfen Kritik an der religiös unterfütterten Kreuzzugspolitik ihrer jetzigen Regierung. Hier werden sog. Westliche Werte mit denen des Christentums gleichgesetzt und wie damals im Kampf gegen den Kommunismus werden heute Feindbilder produziert und angewandt, die den internationalen Terrorismus treffen sollen und wegen ihrer Allgemeinheit aber "den" Islam treffen. Damals war weder der Kommunismus noch ist heute der Terrorismus jeder Kritik enthoben. Aber es wird der christlichen Botschaft wie jeder Religion nicht erlaubt, Konfliktlinien religiös zu überhöhen und Feindbilder sowie Gewalt im Namen Gottes zu legitimieren.

IV.4 DIE SACHE DER GERECHTIGKEIT

Diese Warnung fährt zum vierten Irrweg: Der ökonomische Materialismus der marxistischen Lehre, schon gar nicht sein "wissenschaftlicher" Atheismus, wird nicht bejaht. Aber er wird als ein Hinweis verstanden, zu übersehen einen christlichen Wirklichkeitsverlust anzeigt. Der Marxismus gemahnt die Christenheit an ihren eigenen Auftrag im Diesseits. D. Bonhoeffer hatte schon in seinen Briefen aus dem Gestapogefängnis daran erinnert, dass die Bibel Freiheit, Erlösung und Gerechtigkeit nicht in die Sphäre nach dem Tod oder in die Innerlichkeit der Glaubenden verschiebt. (WuE 500) "Israel wird aus Ägypten erlöst, damit es als Volk Gottes auf Erden vor Gott leben kann ... Die Auferstehungshoffnung verweist den Menschen … in noch verschärfter Weise an sein Leben auf der Erde ... Christus fasst den Menschen in der Mitte seines Lebens!" Im Diesseits, in der Mitte des politischen Lebens wirkt die Christusbotschaft durch seine christliche Gemeinde. In ihr ist er präsent, schließlich ist sie sein Leib. Denn: Die Sache der Armen und Entrechteten ist gemäß dem Evangelium von Gottes kommendem Reich die Sache der Christenheit! Diese biblische Sache hat eine verbürgerlichte und allzu staatsnahe Kirche der Arbeiterbewegung überlassen. Diese kämpfte für gerechte Löhne, den 8-Stundentag, gegen Kinderarbeit, für Streikrecht und für Frauenwahlrecht, nicht die Kirche; dem Staat und der Wirtschaft mussten diese heutigen Selbstverständlichkeiten abgerungen werden. Zur positiven Wirkungsgeschichte des Darmstädter Wortes gehört, dass es in der DDR helfen konnte, einen kritischen Dialog mit gesprächsbereiten Vertretern der herrschenden Partei zu beginnen.

Hans Joachim Iwand denkt beim Darmstädter Wort vor allem an die klassische Sozialdemokratie, die sich in einem Wandel befand. Er schreibt: „Die Sozialdemokratie ist heute nicht mehr die alte. Sie steht in einer Entwicklung. Man sollte darum nicht in Bausch und Bogen unser Wort ablehnen, das gewiss nur ein erster Versuch war, dessen Tendenz ich aber - gerade weil ich von einem konservativen Denken herkomme - für richtig halte." Ihm geht es um ein neues Verständnis und um eine glaubwürdige Praxis der Gerechtigkeit. Milliarden von Menschen leiden himmelschreiend unter Ungerechtigkeit und Unrecht. Der Sozialismus fordert - obwohl er in diktatorischen Varianten gegen seine Ziele der Gerechtigkeit selbst auch verstieß - damals wie heute das Christentum heraus. Noch stärker tun das die wachsende Wut der Armen und ihre Revolutionen in der sog. Dritten Welt. Die weit verbreitete Ungerechtigkeit fragt alle politischen Konzeptionen und Religionen nicht, wer sein eigenes Recht behauptet, sondern wer Recht tut, wer Gerechtigkeit auf der Erde fördert und Versöhnung über Fronten der Unkenntnis und Feindschaft hinweg betreibt. Die Warnung vor diesem Irrweg hat an Aktualität nichts verloren.

In der Diskussion meldeten sich sehr unterschiedliche kritische Stimmen zu Wort. Ein Vorwurf - auch aus den Reihen der Bekennenden Kirche - lautete: ,,Anpassung an den Zeitgeist" Der Berliner Bruderrat (u.a. mit Otto Perels, Kurt Scharf, Martin Albertz) bejahte das Vorhaben im Grundsatz, wollte aber eine Verwechselbarkeit mit ideologischen Positionen vermeiden. Es sollte vor allem keine Rechtfertigung des sich in der Ostzone und in Osteuropa verfestigenden Stalinismus geschehen.

Eine ganz andere Kritik kam vom konfessionell eingeschworenen Luthertum: Die "theologische Entgleisung" des Darmstädter Wortes bestehe darin, wie die Deutschen Christen "Konjunkturtheologie" zu betreiben und nun nicht mehr die große deutsche Stunde 1933 zu beschwören, sondern die "Stunde des Sozialismus". Hans Asmussen schrieb, dass weder die KPD noch die SPD "einen sichtbaren Bruch mit ihrer mehr als heidnischen Grundlage vollzogen" haben. Die Grundlagen beider Parteien seien ausgesprochen antichristlich". Und dann wird von der eigenen Schuld abgelenkt, wenn es heißt: "Die Linksparteien, und vor allem auch die SPD, (haben) bis zum heutigen Tag eine Schuld auf sich geladen durch die Proklamation des Klassenkampfes und das heißt der Begehrlichkeit, des Massenmordes, der Verteufelung des Gegners, der Auflösung der menschlichen Gemeinschaft, ein Vorläufer der Lehren Hitlers!" Nationalsozialisten wie Sozialisten vertreten beide "bewusste Gottlosigkeit". Der heute von der FDP wieder reaktivierte alte Slogan der CDU/CSU blickt also auf ein ehrwürdiges Alter zurück. Die Sozialisten - "auch die religiösen Sozialisten" - sind "Vorläufer Hitlers" und tragen Mitschuld am Nationalsozialismus!". Also Christoph Blumhardt, Martin Buber und sein Anwalt Ludwig Metzger, Gustav Radbruch, Blumhardt, Max Weber, Adolf Löwe, Hugo Sinzheimer werden zu den Ahnen des Nationalsozialismus gerechnet und Rechts wie Links gleichgesetzt. Asmussens Thesen machen deutlich, wie notwendig das Darmstädter Wort war und ist.

Es lädt zur kritischen Selbstprüfung ein, etwa im Sinn der Wandinschrift, die ich im Januar 1990, nach der Wende, an einem Dresdener Gemeindehaus las: "Der Kommunismus ist untergegangen, Gott sei Dank, aber der Kapitalismus hat nicht gesiegt, er ist übrig geblieben." Hat er die Antworten auf die auf die Frage nach Recht und Gerechtigkeit, nach Versöhnung und Freiheit als die Aufgabe politischer Verantwortung? Und die beantwortet sich nicht einfach anband traditioneller Frontlinien. Darüber muss in den christlichen Gemeinden heute mehr gestritten werden als über Geld und Zusammenlegungen, als über die Marktförmigkeit und Unterhaltungsangebote der Kirche. Eine Diskussion in und zwischen den christlichen Gemeinden ist daran vertrocknet.


Benutzte Literatur:

Dietrich Bonhoeffer, Ethik, DBW Bd 6, München 1992; Ders., Widerstand und Ergebung,

DBW Bd 8, Gütersloh 1998;

Martin Greschat (Hg), Die Schuld der Kirche. Dokumente und Reflexionen zur Stuttgarter Schulderklärung vom 18.119. Oktober 1945, München 1982;

Karl Herbert, Kirche zwischen Aufbruch und Tradition. Entscheidungsjahre nach 1945, Stuttgart 1989;

Hans Joachim Iwand, Frieden mit dem Osten. Texte von 1933 _ 1959, München 1988;

Hartmut Ludwig, Die Entstehung des Darmstädter Wortes, Junge Kirche, Beiheft zu Heft 8/9, 1977;

Hans Prolingheuer, Wir sind in die Irre gegangen. Die Schuld der Kirche unterm Hakenkreuz, Köln 1987;

Ulrich Schwemer, Christen und Juden. Dokumente der Annäherung, Gütersloh 1991;

Heinz Eduard Tödt, Komplizen, Opfer und Gegner des Hitlerregimes. Zur ,inneren Geschichte' von protestantischer Theologie und Kirche im ,Dritten Reich', Gütersloh 1997;


Vortrag am 22.6.2007 in Darmstadt. Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers