Vortrag STÖHR

Studientagung 2010: Vortrag STÖHR

Studientagung 2010 - Begegnungs- und Bildungszentrum Woltersdorf

Zukunft braucht Erinnerung

Vom Gedenken in unterschiedlichen Kulturen

20. - 23. September 2010

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Foto (2008): Eingangstor zum Yasukunischrei, Tokyo, Japan

Vor 100 Jahren wurde Korea eine Kolonie Japans verbunden mit Unterdrückung und dem Versuch, es seiner kulturellen Identität zu berauben; vor 60 Jahren begann der Koreakrieg, der unendliches Leid über die Menschen in Nord- und Südkorea gebracht hat; vor 30 Jahren wurde Korea von dem Massaker in Kwangju erschüttert und vor 20 Jahren geschah die Wiedervereinigung Deutschlands.

 

 

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Prof. Dr. Martin Stöhr

Bad Vilbel

hielt einen Vortrag zur theologischen Grundlegung von Erinnerungskultur: Zukunft braucht Erinnerung. Vom Gedenken in unterschiedlichen Kulturen. 

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Z U K U N F T    B R A U C H T    E R I N N E R U N G
Vom Gedenken in unterschiedlichen Kulturen
Martin Stöhr

Berlin am 22. September 2010

 

      I  

Mit der Einzigkeit Gottes hängen die Einzigkeit eines jeden Menschen und die unwiederholbare, deshalb zu verantwortende Einzigkeit der Geschichte der persönlichen wie der politischen.

Zu Beginn skizziere ich zwei unterschiedliche Arten und Perspektiven, sich zu erinnern. Beide reagieren auf schlimme Erfahrungen in der Geschichte.

Der buddhistische Mönch Monichenda Hang überlebte Verfolgung, Völkermord und Folter des Pol-Pot-Regimes in Kambodscha. Heute leitet er vom Kloster Wat Alongvil aus die buddhistische Gesellschaft Buddhismus für Entwicklung mit 150 Mitarbeitern. In einem Interview erklärt er: Leiden ist Teil des Lebens, Der Buddhismus lehrt, dass sich alles in Wandlung befindet, nichts bleibt wie es ist. In den 30 Jahren nach Pol Pot haben die Menschen schon viel vergessen. Die Zeit ist eine große Heilerin. Wenn sie vergeht, fühlen wir uns besser, werden glücklicher. Das verdanken wir dem Fluss der Zeit...Die westliche Vorstellung von Überwindung der der Vergangenheit ist immer eine Erzählung über die Vergangenheit. Aber im Leben geht es um mehr. Das Leben geht weiter. Der Buddhismus hilft uns, in der Gegenwart zu leben.[1]

Die jüdisch-christliche Geschichtsauffassung mache ich an zwei knappen Texten fest: Dem russischen Chassid, Baal Schem Tov (1700 1760) wird das Wort der jüdischen Weisheit zugeschrieben Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung!
Der Chassidismus ist eine Art, osteuropäischer Erweckungsbewegung im Judentum ganz parallel zur protestantisch-europäischen Erweckungsbewegung des frühen Pietismus, wenn auch sehr viel mystischer geprägt. Beide protestantischer Pietismus und Chassidismus sind aber nie miteinander in Verbindung getreten wären. Beide haben völlig verschiedene Wurzeln. Eine Gemeinsamkeit ist zu unterstreichen: Beide protestieren jeweils gegen eine protestantische bzw. eine jüdische Orthodoxie, die Lehren und Rituale sowie Traditionen vor die praxis pietatis setzen.
Beide Bewegungen im Christentum wie im Judentum sind reformerische Bewegungen. Sie zielen auf eine Erneuerung ihrer eigenen Glaubensgemeinschaften gerade auch dadurch, dass diese nicht für sich selber leben wollen, sondern ihren Glauben in der Welt bewähren. Es geht nicht um die Speicherkapazität des Gedächtnisses, sondern um die Reichweite und um die praktischen Folgen der Erinnerungsarbeit. Kommt die Wirklichkeit der Geschichte darin vor? Wir wissen, dass Menschen, die das Gedächtnis durch Unfall oder Krankheit verlieren, die Orientierung verlieren. Sie wissen nicht, woher sie kommen, wohin sie gehören, wohin sie gehen.
Monichenda plädiert als Therapie auch für ein Vergessenwollen und Vergessenkönnen. Er nennt die Zeit die große Heilerin obwohl er selber zugesteht, dass er seine Foltererfahrungen nicht vergessen kann. Vergessen ist also ein aktiver, gewollter Schritt zur Heilung der Geschichte; für ihn darüber hinaus ein resoluter Schritt in die Gegenwart. Diese ist nach den Schrecken der Vergangenheit angefüllt mit Aufgaben. Konkret ist für Brot und Wasser, für Ausbildung und Arbeit, für Gesundheit und Zukunft heute zu sorgen. Das zerstörte Land ist wieder aufzubauen. In der westlichen Erinnerungskultur sieht Monichenda die Gefahr, die Vergangenheit nur nachzuerzählen und so versuchen, die Vergangenheit zu überwinden.
Baal Schem Tov ist dagegen der biblischen Auffassung von Erinnerung und ihrer freimachende, weil von Gott gegebenen Kraft näher. Erlösung, Befreiung von den Lasten der Vergangenheit ist eine Aufgabe, sollen diese Lasten nicht in Traumata oder Wiederholungen gedrängt werden. Das Geheimnis der Erlösung, andere Übersetzungen sagen: das Tor der Erlösung heißt Erinnerung.
Dietrich Bonhoeffer beklagt den Verlust des moralischen Gedächtnisses, eines Gedächtnisses, das Maßstäbe zur Beurteilung dessen kennt, was in der Geschichte vorgeht. Er verweist darauf: die Güter der Gerechtigkeit, der Wahrheit, der Schönheit...brauchen Zeit...Gedächtnis, oder sie degenerieren.
Wer nicht Vergangenheit zu verantworten und eine Zukunft zu gestalten gesonnen ist, der ist vergesslich.[2] Die singuläre, unwiederholbare Verantwortung des Menschen verdankt sich seiner Stellung in der Mitte der Geschichte, die in der Gegenwart die Zukunft gestaltet und die Vergangenheit verantwortet. Die Zeitzeugen sterben langsam aus. Sie halfen und helfen der Mehrheitsgesellschaft Dank sei ihnen - diese Erinnerungs- und Gestaltungsaufgabe authentisch, um aufklärende Erkenntnis und Neuanfang bemüht, zu leisten.


       II

Erlösung findet im Diesseits, in der Mitte des Lebens statt.
Gehe ich den biblisch-hebräischen Wurzeln des Wortes Erlösung nach, kann ich auch sagen: Erlösung bedeutet Befreiung und Heilung. Unsere Welt braucht sie wie die Geschichte unserer Welt, denn beide sind nicht, was sie sein könnten.

Das Wort Erlösung steckt in Jeschua, Jesus, im Namen unseres Christus, dem Erlöser, dem Heiland, dem Befreier von Schuld und Hunger, von Angst und Hass, von Zukunftslosigkeit und konventioneller Traditionsfixierung, von Ausgrenzung und Krankheit. Das hebräische Verb j-sch-a = erlösen, befreien, heilen beschreibt die Taten Gottes, die in der realen Geschichte stattfinden. Gott befreit sein Volk aus Ägypten, aus Unterdrückung und Sklaverei, aus der Deportation oder aus Schuld und Elend. Denken Sie bitte an den Reichtum der Psalmen, die um Erlösung aus persönlichem oder gemeinschaftlichem Elend beten oder aber für eine erfahrene Befreiung Gott danken. Als Jesus am ersten Ostertag durch Gottes Auferweckung die messianische Zeit wir leben jetzt mitten in ihr eröffnet, da werden exakte Daten und Namen genannt: Augustus, Cyrenius, Pontius Pilatus. Erlösung und Befreiung geschehen im Diesseits, vor der Todesgrenze und sie überschreiten die Todesgrenze. Er heilt Kranke, macht Hungernde satt, stemmt sich gegen den Tod, vergibt Schuld, nimmt Arme und Ausgegrenzte in seine, ich unsere Verantwortung.

Nicht die Geschichte noch ihre Zuschreibungen wie Rasse, Volk, Blut und Boden, offenbaren etwas das meinten die nazihörigen Deutschen Christen. Dagegen wandte sich die Bekennende Kirche. Aber es lebt ein breiter Strom, der meint, die Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. sowie die Zerstreuung des jüdischen Volkes offenbarten etwas: nämlich, dass Gott sein Volk verworfen habe, weil es seinen Messias abgelehnt habe. Der biblische Gott offenbart sich gewiss in der Geschichte, in der Geschichte seines Volkes Israel und in der Geschichte von Jesus, dem Christus. Und diese Geschichte ist das Modell eines Umgangs mit der Geschichte zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Überlieferung und Hoffnung, zwischen Warten und Aktivsein.

Die Geschichte ist nicht eine Geschichte von Ideen, von denen die christliche eine wäre. Die so genannte Heilsgeschichte findet mitten in der oft so brutalen Realgeschichte statt. Sie ist der Raum, sie ist die Zeit in der Gottes Ruf erklingt, gehört oder überhört wird. Mose und Abraham sind wie Amos und Jesaja, wie Miriam und Maria, wie Jesus und Paulus Zeitgenoss/innen Gottes sowie ihrer jeweiligen Umwelt. In Raum und Zeit wird eingeschrieben, wird aufbewahrt, was Gott in der Geschichte tun und sagen will. Nicht nur bewahrt wird es dort, nein, auch bewährt.

Die biblische Auffassung von Geschichte und damit von Erinnerung oder Gedächtnis verortet uns Menschen in einer ebenso widerständigen wie aufgabenreichen Gegenwart. Die messianische Zeit hat Ostern angefangen, aber zu ihrer Vollendung durch Gott und seinen Messias sind wir auf einem Weg.

Auf diesem Weg ist es wichtig, sich an seinen Ausgangspunkt, den göttlichen Ursprung unserer Welt und aller Menschen, ihrer Gefährdungen und ihrer Chancen zu erinnern. Gott hat uns seine Welt anvertraut und zur Welt gehört auch die Geschichte. Wir sind für sie verantwortlich. Wir sind unterwegs in eine Zukunft, die nicht vergisst, dass Gottes gute Schöpfung und die sehr gute Kreation seiner Ebenbilder der Erlösung, der Befreiung und der Heilung von allem Bösen dringend bedürfen. Wir wissen nicht, woher das Böse kommt. Wir wissen aber, woher das Gute kommt.

Das Böse wird im Evangelium von Gottes guter Schöpfung und von unserer Würde als Gottes kreative Ebenbilder und Stellvertreter nicht als Erbsünde beschrieben, die mir zu sagen erlaubt, die Welt und der Mensch seien böse, da könne man nichts machen. Deswegen wird gleich am Anfang der Bibel realistisch auf zwei Dinge hingewiesen:

Einmal hört Kain in seiner Orgie aus Hass, Neid und Mord gegenüber seinem Mitmenschen Abel Gottes Stimme: Das Böse lauert vor deiner Tür, du sollst über es Herr sein! (Gen 4,7).

Gott schweigt nicht zu Mord und Totschlag und zu dem, was nach
der Bergpredigt dem vorausgeht: Die Herabwürdigung meines
Nächsten. Das Töten von Juden, Roma und Sinti, Polen und Behinderten begann in unserem Land damit, diese Gruppen gering zu schätzen und sie zu verachten.

Die Bibel weist zweitens in ihren vier Urgeschichten auf die vier Urbosheiten hin, zu denen jeder Mensch fähig ist:

Adam und Eva, die Menschen also verweigern sich Gott und seinem Willen. Sie wollten die Welt und Geschichte in grenzenloser Freiheit. Sie flüchten in die Verantwortungslosigkeit. Als Gott sie sucht und ruft: Wo bist du? Die Folgen sind: Schmerz und Gewalt in ihrem Alltag. Der Rabbi von Chozk sitzt nach einem zaristischen Pogrom in St. Petersburg im Gefängnis. Sein christlicher Wachsoldat beginnt, halb ironisch, halb ernst einen christlich-jüdischen Dialog: Gott weiß doch alles. Warum fragt Gott Adam, wo bist du? Der Rabbi antwortet: Natürlich weiß Gott, wo sich adam aufhält. Aber er will wissen: Wo stehst du eigentlich am Anfang des Lebens, wo stehst du?

Die Geschichte von Kain und Abel macht das deutlich, wozu Menschen fähig sind, wenn sie nicht lernen, die eigene Freiheit an der Freiheit des Nächsten zu begrenzen.

Der Mensch ist in der Lage, die ganze Schöpfung zu vernichten. Gott nimmt das nicht hin. Obwohl er weiss, dass das Dichten und Trachten des Menschen böse ist, schliesst er mit genau diesem Menschen einen Bund - mit einer Minderheit von Noah und seiner Arche tritt er an gegen die Expansion der zerstörerischen Gewalt des Bösen. Hier beginnt die Rechtfertigung des Menschen.

Der Turmbau zu Babel dokumentiert die raffinierte Gewalt des Menschen, sich selbst zum Maßstab des menschlichen Lebens zu machen. Dadurch will er sich einen Namen, einen Schem machen, statt mit seinem Leben den Namen Gottes zu heiligen, worum wir bekanntlich im Vaterunser bitten. Die Folge ist, dass die Kommunikation der Menschen untereinander zerbricht. Unverstand und Unverständnis breiten sich aus. Martin Heidegger wird 1933 zum Rektor der Freiburger Universität gewählt. Er bringt sein Konzept und das des deutschen Volkes auf die Formel Wir wollen uns selbst! Über dem alten Hauptportal dieser Universität steht das Wort des Juden Jesus Die Wahrheit wird euch freimachen!


      III

Geerbt haben wir nicht die Sünde, sondern die Fähigkeit, sie zu überwinden
Alle vier Beispiele haben soziale und politische Implikationen. Für Heidegger bedeutet das zB, dass er aus seinem Hauptwerk Sein und Zeit die Widmung an seinen jüdischen Lehrer Husserl streicht, für den einflussreichen Theologen Karl Heim in Tübingen, dass er die Zitate von Martin Buber in seinem Hauptwerk tilgt. Die jüdischen Studenten und Dozenten verschwinden. Wer sich selber will, will den Nächsten nicht mehr kennen und sehen. Keine Universität leistet Widerstand, als Institute für Rassehygiene eingerichtet werden, um Abel, wenn er zur falschen Rasse hinunter-definiert wird, auch intellektuell zu töten.

Nach 1945 hat die Ev. Kirche Schuldbekenntnisse abgelegt. Durch uns ist unendliches Leid über Völker und Länder gebracht worden. (Stuttgart Okt. 1945). Eine Denkschrift der EKD zu den Roma und Sinti bekennt die christliche Schuld diesen Völkern gegenüber. Das Darmstädter Wort nennt 1947 folgende Irrwege:

Wir haben unsere Nation auf den Thron Gottes gesetzt.

Wir haben unseren Staat auf militärische Machtentfaltung nach außen und eine starke Regierung nach innen aufgebaut. Demokratie- und Menschenrechtsverachtung

Wir haben eine christliche Front der Konservativen gebildet, um notwendige gesellschaftliche Veränderungen zu verhindern. Feindbilder zu produzieren ist vielen eine Lust.

Wir haben das Recht auf Revolution verneint und den Weg in die Diktatur geduldet.

Wir haben es unterlassen, die Sache der Armen und Entrechteten gemäß dem Evangelium von Gottes kommendem Reich zur Sache der Christenheit zu machen Wir haben die soziale Gerechtigkeit dem marxistischen Materialismus überlassen.

Die Überwindung antijüdischer Vorurteile (Die Juden haben Jesus gekreuzigt, dafür hat sie Gott in der Geschichte durch Verfolgung gestraft (Gott?), Judas und die Pharisäer sind die typischen Juden; Die Hebräische Bibel ist nur eine Gesetz, das Evangelium steht im Neuen Testament etc) ist in Schul- und Lehrbüchern, in Predigten oder Alltagssprache noch immer zu lernen.

Das Böse hat politische Gestalt. Aber das Gute auch. Gemäß dem Evangelium von Gottes kommendem Reich ist das Gute unsere Sache und die Überwindung des Bösen durch das Gute ebenso (Rö 12,21). Das Böse ist weder ein Schicksal, dem ich wie einem Naturereignis oder genetisch ausgeliefert bin noch ein Element, das im Kreislauf der Geschichte und der Generationen ausgewechselt wird oder sich selber überholt.

Eine keineswegs nur buddhistische Auffassung spricht von der therapeutischen Wirkung der Zeit. Wer sagt Leiden ist ein Teil des Lebens, hat im Blick auf die Welt empirisch recht. Aber wäre da nicht doch nachzufragen, ob wir nicht viel leidenschaftlicher sagen müssten: Böses, Schuld und Leiden, so gewiss alles Teil des Lebens ist, soll nach Gottes Willen nicht sein? Wird nicht zu häufig die Frage gestellt Wie kann Gott dieses Leiden und jene Bosheit zulassen? Heißt die Alltagsfrage nicht: Wie können wir Menschen Waffenexporte, Kriege, unfaire Handelsbeziehungen, Kindesmisshandlungen Rassismus, Lager, Menschenhandel und Fremdenverachtung praktizieren oder das ist die höchste Form von Aktivität! gleichgültig zulassen?

Ist nicht seit Gottes guter Schöpfung und der sie korrumpierenden menschlichen Intervention eine Dynamik hin zu einer neuen Schöpfung im Gang? Heißt, genauer: ist nicht unser Messias, der Christus (Rö 8,29; Kol 1,18; Off 1,5) der Erstgeborene einer neuen Schöpfung? Sind wir nicht aktiv auf diesem Weg von der Schöpfung zur Neuschöpfung? Ihm nachfolgend als neue Geschöpfe, als Neugeborene?

Die Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde (Jes 65,17; 2.Petr 3,13; Off 21,1) ist keine leere Hoffnung. Die biblische Hoffnung ist erfüllt mit realistischer Wahrnehmung der Welt, der Geschichte sowie der Gesellschaft. Wie mobilisiert und vitalisiert diese Wirklichkeit uns im Licht und in der Energie der Christusgeschichte auf dieser Erde? Dieser biblische Realismus verbietet uns eine konservative Flucht in die Vergangenheit. Wie die Propheten und wie Jesus haben wir immer zu fragen, wie bewahren wir, was zu den Alten gesagt ist? Die Wiederholung der 10 Gebote, der Propheten oder der Bergpredigt reicht nicht. Sie müssen immer wieder neu ausgelegt werden und vor allem neu ausgelebt werden. Wir hören und haben gehört, was zu den Alten gesagt ist, was und wie sagten wir es heute? D. Bonhoeffer legt die Bergpredigt (in seinem Buch Nachfolge) aus, lebt sie, schreibt eine Ethik, keine Dogmatik. Von Mose erzählt eine rabbinische Geschichte, dass er Jahrhunderte nach dem Empfang der Tafeln am Sinai aus der Ewigkeit die Gemeinde im jüdischen Lehrhaus diskutieren hört. Er versteht nichts. Er ist beruhigt, als er hört, man bemühe sich um die Tora und ihre Neuauslegung für die Gegenwart.

Das ist eine wichtige Frage: Wie bewähren wir heute, was uns anvertraut ist? Was nur bewahrt werden will, aber nicht bewährt werden will, geht verloren. Der Zustand unserer Kirche belegt diese Verluste.

Gott hat uns geschenkt: Seine Gerechtigkeit und Liebe, sein Recht und sein Vertrauen, obwohl er die von uns geduldete oder produzierte Ungerechtigkeit und Lieblosigkeit, das Misstrauen und die Rechtlosigkeit in unserer Welt kennt, aber nicht hinzunehmen bereit ist. Deshalb gehört zur erlösenden Befreiung die Tora, die Weisung zum Leben

Dieser biblische Realismus verbietet uns aber auch eine Flucht in die Zukunft, als ob das eigentliche Leben, das Leben in der Ewigkeit erst jenseits der Todesgrenze beginnt. Ich verstehe viele Dichter unserer Choräle, die sich aus dem Jammertal oder Tränenfeld (EG 450: Morgenglanz der Ewigkeit) ihrer Gegenwart heraus sehnen vor allem, wenn dieses Jammertal 30jähriger Krieg heißt. Paul Gerhardt bekennt, keinen Stand auf Erden zu haben, er sei hier nur Gast, seine Heimat ist dort droben, sein Vaterland im Himmel (EG 529).

Eine andere Form der Weltflucht ins Jenseits flieht in die Innerlichkeit der Seele. Dann ist das Brot nur eine Seelenspeise, dann ist die Gerechtigkeit nur eine Gerechtigkeit, die vor Gott gilt und die sich herzlich wenig um die Gerechtigkeit im ökonomischen oder sozialen Bereich oder um das Unrecht in unserer fernen und nahen Welt kümmert, dann ist das Recht nur mein Recht, das es zu behaupten gilt, und nicht das Recht der vielen, denen Recht und Gerechtigkeit fehlen. Dann umfasst meine Liebe nur Gott und ein paar mir nahe stehende Menschen, keineswegs aber meine Feinde oder andere, mir widerliche Menschen und Zustände.

Gottesdienste, Gottvertrauen, Beten sind sensitivity-trainings für eine Befreiung der Welt, ihre Erlösung vom Bösen. Noch einmal: Darum bitten wir ja Gott im Vaterunser Und erlöse uns vom Bösen. Jesus schärft diese Sensibilität uns in der Bergpredigt ein: (Mt 5,23f) Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst und dir dabei einfällt, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe dort am Altar liegen, geh hin und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe,

In der Mischna heißt es ((Yoma 5.9): Sünden des Menschen gegen Gott sühnt der Versöhnungstag, Sünden des Menschen gegen seinen Mitmenschen sühnt der Versöhnungstag nicht, bis man dessen (dessen Mitmenschen) Vergebung erlangt hat! Gott hat sich mit uns versöhnt. Was sagt die Bibel anderes? Jesus, der Messias beglaubigt es in seinem Leben und Sterben. Vom Versöhnungstag im Judentum könnten wir lernen: in direktem Kontakt mit dem Mitmenschen, dem ich Unrecht tat, von mich meine Bosheit trennt, die Erlösung der Welt ein Stück weiterzutreiben. Dazu hat Gott uns seine Gerechtigkeit und Liebe geschenkt, die müssen wir nicht erwerben weder durch religiöse noch durch säkulare Leistungen. Dann gilt Bonhoeffers im Widerstand und Martyrium gewonnene Erkenntnis:

Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen...nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit![3] Freiheit für eine bessere Zukunft.


      IV

Auch der Täter und ihrer Untaten ist zu gedenken, nicht um sie zu
verteufeln oder zu imitieren, sondern um an den Bösen zu lernen,
wie man es anders machen könnte

Damit erhebt sich Frage: Woran erinnern wir uns? An die, die Widerstand geübt haben, seien es Bonhoeffer oder die weithin Unbekannten, die Kriegsdienst verweigerten, die Juden versteckten, die hungernden Zwangsarbeitern Deutschland hat etwa 12 Millionen aus seinen Nachbarländern in unsere Fabriken, Bauernhöfe und Lager deportiert? Erinnern wir uns auch an die Täter, an Rudolf Höss, den Lagerkommandanten von Auschwitz? Er entschuldigte sich selbst mit dem Hinweis auf seine Erziehung. Er sei so erzogen worden, dass er die Wünsche und Anordnungen...aller Erwachsenen unverzüglich durchzuführen hätte...was diese sagten, sei immer richtig.[4]

Mit afrikanischen Freunden besuchte ich die Wannseevilla, wo 1941 die vollständige Ermordung der europäischen Juden beschlossen wurde. Meine Freunde erwarteten grausame Bilder aus Konzentrations- und Vernichtungslager. Aber an den Wänden hingen seriöse Bilder von seriösen Ministerialräten aus allen Ministerien des Deutschen Reiches. Sie waren zum größten Teil schon vor 1933 Regierungsbeamte, zum Teil auch wieder nach 1945. Sie haben selber nie jemand totgeschlagen, aber sie funktionierten so, wie es die Staatsmacht von ihnen verlangte. Sie dienten dem Kommando. Sie waren servile Täter.

Andere, vor allem Intellektuelle, dachten lange vor der Nazizeit voraus, wie zB behinderte Menschen zu vernichten seien. Sie seien doch unnütze Esser oder Ballastexistenzen.

Betriebswirtschaftlich gerechnet stimmt das. Sie trugen nichts zur Erhöhung des Bruttosozialproduktes bei. Der Mediziner Alfred Hoche und der Rechtswissenschaftler Karl Binding, Professoren in Leipzig, machten schon 1922 den Vorschlag, Behinderte auszumerzen. Soldaten der Wehrmacht haben in der Ukraine 483 Dörfer niedergebrannt. Das Programm hieß Verbrannte Erde!

Die Frage: An wen erinnern wir uns? Zuerst an die Opfer und zu wenig an die Täter? Könnte es sein, dass wir befürchten, uns selbst zu begegnen, uns selbst zu nahe zu treten, wenn wir nur an die Opfer erinnern? In der Erinnerung an die kleinen und großen Täter und ihre intellektuellen und gedanklichen Untaten, an ihre Passivitäten, an ihr Wegschauen oder an ihre Ausreden Da war nichts zu machen entdecken wir vielleicht Stücke unserer Neigungen und unserer Fähigkeiten? Wer die biblischen Erinnerungen an Ursünden, also an die Fähigkeiten eines jeden Menschen, ernst nimmt, muss auch an die Täter erinnern.

Dass hierzulande zu viel an die Opfer erinnert und vor allem ihrer gedacht wird, das kritisieren jüngere Historiker. Die vielen Gedenkstätten zB allein in Berlin gibt es 370 Gedenkstätten - halten das Gedächtnis an die Opfer wach, an Menschen, die einmal Nachbarn in der Straße, in der Schule, im Sportverein, in der Universität, in der Fabrik, kurzum im Alltag zusammen lebten, arbeiteten, liebten, litten, stritten. In vielen Städten und Dörfern Deutschlands gibt es inzwischen Tausende von Stolpersteinen. Im Bürgersteig eingelassen, aus Messing, tragen sie die Namen derer, die im Haus dieser Straße wohnten: Klara Goldschmidt zB, geb. am gestorben am in Theresienstadt, Gurs, Maidanek. Die Kritik jüngerer Historiker tritt mit dem Argument auf, dass die Mehrheitsgesellschaft eines Volkes der Täter sich leichter auf die Opferseite stellt. Sie sind tot. Ich bin es nicht. Mitleid und Trauer sind leichter als Selbstkritik und Wachsamkeit. Könnte ich selbst Täter sein, gewesen sein? Diese Kritik der jungen Historiker fragt: Wird damit nicht unterschwellig die Botschaft ausgegeben: Wer nur intensiv genug an die deutschen Massenverbrechen erinnert, darf auf die Erlösung von der überlieferten Schuld hoffen. Die Autoren nennen das eine Neuauflage des römischen Ablasshandels und formulieren dagegen ein protestantisches Nein.[5] Es ist in diesem Zusammenhang an Stanley Milgrams Experiment zu erinnern: Wenn etwas einem höheren Zweck, in seinem Fall der Wissenschaft, dient, dann sind 75 % der Menschen bereit, andere bis zum Tod zu quälen.

Max Frisch Wenn Menschen, die eine gleiche Erziehung genossen haben wie ich, die gleichen Worte sprechen wie ich, und gleiche Bücher, gleiche Musik, gleiche Gemälde lieben wie ich wenn diese Menschen keineswegs gesichert sind vor der Möglichkeit, Unmenschen zu werden und Dinge zu tun, die wir den Menschen unserer Zeit...vorher nicht zutrauen können, woher nehme ich die Zuversicht, dass ich davor gesichert bin? Max Frisch, Ausgewählte Prosa, Frankfurt 1963, S. 42. Auschwitz begann langer vor Auschwitz. Das Darmstädter Wort von 1947 nennt fünf Irrwege, die in unserem Volk den langen Weg zur Verfolgung und Ausgrenzung und Vernichtung unserer Mitmenschen führten.


     V

An die biblische Erinnerung ist immer wieder zu erinnern
Das Wort Sachor! erinnere dich!, gedenke! kommt in seinen Varianten in der Hebräischen Bibel 169 Mal vor (Yosef Hayim Yerushalmi 1988, S.17). Weder der Tod (Ps 6,6) im Tod gedenkt man dein nicht!) noch das Tier kann gedenken. Tiere können sich zwar erinnern, sind also lernfähig, aber die bewusste Form des Gedenkens, das Nach-vorne-Denken, das kritische Reflektieren, setzt voraus, dass die lebendigen Menschen nicht nur eine Geschichte haben, sondern auch ein Bewusstsein ihrer individuellen wie ihrer gattungsmäßigen Geschichte. Das gilt, obwohl viele Menschen ihr Leben in den Tag, bewusstlos oder nur im Augenblick wahrnehmen, leben und gestalten. Die Aufforderung zu gedenken, sich zu erinnern hat ein kritische Funktion: Gedenke, wovon du abgefallen bist und kehre um! (Off 2,5) lässt Gott den Seher Johannes im ersten Sendschreiben nach Ephesus mitteilen. Und die Leser des Hebr Briefes werden aufgefordert, ihre Leidenserfahrungen und die der Gefangenen und Verfolgten nicht zu vergessen (10,32; 13,3). Auch der Lehrer (13,7) ist zu gedenken. Sie schlagen die Brücke zu den Stationen, woher wir als Einzelne wie als Gemeinden kommen.

Die Aufforderung, sich zu erinnern, ergeht auch an Gott genauso wie an sein Volk. Die Kommunikation Gott Mensch ist keine Einbahnstraße. Beide, Gott und sein Volk werden aufgefordert zu gedenken, sich zu erinnern, den Menschen, den Armen wie den Schuldigen, nicht zu vergessen. Der Schächer neben dem Jesus-Kreuz bittet um ein gnädiges Gedenken, wenn Jesus in Gottes Reich geht. Der Beter staunt und bittet über Gottes Größe sowie über des Menschen Größe und Würde zB in Ps 8: Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? und wie oft wird Gott angerufen: Gedenke, Herr, an Deine Barmherzigkeit und an deine Güte und gedenke nicht der Verfehlungen meiner Jugend! (Ps 25, 6). Ich zitiere diese Bitte bewusst, weil sie 1943 eine Rolle spielte, als ein leitendes Mitglied der BK an Visser tHooft in Genf schrieb, dass die deutsche Kirche ein Schuldbekenntnis nach dem Krieg ablegen müsse aber nicht öffentlich, sondern priesterlich vor Gott. Die Antwort aus Genf, geschrieben von einem deutschen Emigranten, kam prompt: Wie bei den biblischen Propheten müssen Sünden und Verfehlungen öffentlich bekannt werden. Für Bonhoeffer war es klar: Schuldübernahme heißt eindeutig: Schulderkenntnis und Schuldbekenntnis öffentlich.

In Deutschland von heute wehren sich manche Jugendlichen und Erwachsenen gegen die Erinnerung an unsere Geschichte mit dem Einwand, man wolle ihnen eine Schuld aufdrücken, die sie nicht haben. Nein, natürlich nicht: die heutige Generation hat an den Untaten der Eltern und Großeltern keine Schuld. Aber im Zusammenhang der Geschichte, also unterwegs von unserer Herkunft in Gott und unserer Zukunft bei Gott, gilt: Zukunft braucht Erinnerung. Daraus erwächst Verantwortung, die nicht zur Mangelware werden darf.



Anmerkungen

[1] DIE ZEIT, 29. Juli 2010.
[2] Widerstand und Ergebung DBW 8, Gütersloh 1998, 310f.
[3] A.a.O. S. 571.
[4] Martin Broszat (Hg), Kommandant in Auschwitz. 1963, S. 23.
[5] Ulrike Jureit und Christian Schneider, Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung. Stuttgart 2010.