Christliche Mission in den indigenen Gemeinden Taiwans
Die indigene Bevölkerung macht etwa 2,4 Prozent der Einwohner*innen Taiwans aus¹. Die unterschiedlichen indigenen Gruppen (bisher sind 16 indigene Sprachen offiziell anerkannt) leben überwiegend als Christ*innen: Obwohl das Christentum insgesamt in Taiwan eine Religion der Minderheit ist, liegt der Prozentsatz von Christ*innen in den indigenen Gemeinden bei etwa 70 Prozent. Dieser auffallend hohe Prozentsatz macht neugierig, mehr über die Hintergründe zu erfahren.
Sowohl in der Literatur als auch im direkten Gespräch mit indigenen Christ*innen wird deutlich, dass die indigene Bevölkerung die Christianisierung in den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts aus heutiger Sicht als Befreiung und Unterstützung erlebt hat. Denn die Einladung zum christlichen Glauben durch taiwanesische Missionare war von Anfang an mit dem Einsatz für die Rechte der indigenen Völker verbunden. Unter der langen Geschichte von Fremdherrschaft, Unterdrückung und Assimilationsdruck hatten nämlich besonders die Ureinwohner*innen zu leiden.
Was bedeutet „indigene Bevölkerung“ in Taiwan?
Als die Europäer im frühen 17. Jahrhundert Taiwan „entdeckten“ und der Insel aufgrund ihrer Schönheit den Namen „Illa Formosa“ gaben, lebten dort bereits seit mehreren tausend Jahren die Inselbewohner*innen, die - wie aufgrund ethnologischer, linguistischer und archäologischer Untersuchungen nachgewiesen wurde – austronesischer Abstammung sind. Zu den „austronesischen Völkern“ gehören auch die indigenen Bewohner*innen der heutigen Philippinen, Indonesiens, Malaysias, Ozeaniens und Madagaskars. Die Besiedelung Taiwans durch die indigenen Völker erfolgte vor mehreren tausend Jahren. Ob die austronesischen Völker insgesamt hier ihren Ursprung haben oder ob ein Teil der Austronesier sich in Taiwan niederließ, kann nicht hundertprozentig geklärt werden. Die Mehrzahl der Forscher*innen vertreten heute die These, dass ihr Ursprung auf dem südostasiatischen Festland (heutiges Südchina und Vietnam) zu finden ist.
Obwohl sich die einzelnen indigenen Völker in Sprache und Lebensweise deutlich unterscheiden und getrennt voneinander betrachtet werden müssen, gibt es einige grundsätzliche Ähnlichkeiten. Gemeinsam ist beispielsweise eine ausgeprägte orale Kultur. Geschichten, Weisheiten und kultureller Wissensschatz wurden also nicht verschriftlicht, sondern mündlich weitergegeben. Die indigenen Völker lebten meist in „Stammesgesellschaften“ mit eigenen Regeln, ohne ein übergreifendes Staatswesen auszuprägen. Bedeutsam ist auch ihr besonderes Verhältnis zu Natur und Umwelt: „Das Land ist meine Mutter. Wie eine menschliche Mutter gibt es uns Schutz und Freude, es erfüllt unsere Bedürfnisse – ökonomisch, sozial und religiös.“²
Warum nahmen so viele indigene Taiwanesen den christlichen Glauben an?
Zur Lebenswirklichkeit in Taiwan gehört die jahrhundertelange Erfahrung von Fremdherrschaft. Es gab immer ein Nebeneinander und Gegeneinander von Kultur, Sprachen und Machtverhältnissen.
(Die Flaggen, die hier im Wind wehen, erinnern an die wechselnde Herrschaft unterschiedlicher Mächte in Taiwan!)
Über die Geschichte des Landes gibt es daher unterschiedliche Narrative. Sudu Tada, Angehöriger der Sediq aus dem Land Toda und Beauftragter für die Arbeit der PCT mit den indigenen Mitgliedern, schrieb dazu „Taiwan ist eine Nation ohne gemeinsames geschichtliches Bewusstsein.“³
Ab dem 13. Jahrhundert wurde die Insel von Einwander*innen aus Festlandchina besiedelt. Das kleine „Formosa“ stand dann im 17. Jahrhundert im Süden unter niederländischer Kolonialherrschaft, während sich im Norden die Spanier niederließen. Unter der Herrschaft der Qing-Dynastie (ab 1683) sowie ab 1895 als Japanische Kolonie und dann nach 1945 unter der Regierung der Kuomintang erlebten besonders die Ureinwohner*innen immer wieder gewaltsame Verdrängung sowie Beschränkung ihrer Selbstbestimmung, ihrer Namensgebung und der Weitergabe ihrer Kultur.
Mit den Europäern war zwar auch das Christentum bereits im 17. Jahrhundert nach Taiwan gekommen, spielte aber weder für die Christianisierung der indigenen noch für die übrige damalige Bevölkerung (Han-Bevölkerung) eine große Rolle. Erst im 19. Jahrhundert begannen die beiden Missionare James Laidlaw Maxwell (aus der Presbyterianischen Kirche in England) und George Leslie Mackay (aus der Presbyterianischen Kirche in Kanada) mit ihrer Tätigkeit auf der Insel. Mackay gilt als Gründervater der Presbyterianischen Kirche in Taiwan (PCT - die größte protestantische Kirche dort) und wird wegen seiner pädagogisch - sozialdiakonisch ausgerichteten Arbeit bis heute hoch geschätzt. Die Arbeit der Missionare wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einheimischen Vertretern der PCT weitergeführt.
Bereits ab etwa 1930 hatte die presbyterianische Kirche mit der Evangelisation unter den Ureinwohner*innen begonnen, zu deren Reservate bis dahin niemand Zutritt hatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte Taiwan 1945 wieder zu China und nach dem verlorenen Bürgerkrieg verlegte die Regierung der Republik China 1949 ihren Sitz nach Taiwan. Den indigenen Völkern wurde politisch zunächst keine besondere Beachtung geschenkt, es bestand weiterhin der Druck zur Assimilation. Mit der Demokratisierung der politischen Verhältnisse in Taiwan ab Ende der 1980er Jahre änderte sich die Einstellung und die Kulturen der Ureinwohner*innen wurden zunehmend auch vom Staat als ein wertvolles und zu bewahrendes Erbe Taiwans angesehen.
Die Christianisierung war von Beginn an untrennbar mit dem Einsatz für die Rechte der Ureinwohner*innen verbunden. Denn diese waren ja in jeder Phase der Fremdherrschaft die besonders Leidtragenden gewesen; aus ihrem ursprünglichen Lebensraum verdrängt, willkürlich woanders angesiedelt und ihres Landes und damit ihrer Lebensgrundlagen beraubt. Von den eingewanderten Chinesen waren sie abwertend als „unzivilisierte Bergmenschen“ (番, Fān) bezeichnet worden und ihre Namen mussten der Sprache der jeweiligen Herrschenden angepasst werden. All dies führte dazu, dass die indigene Bevölkerung ihre eigene Identität und Kultur, ja vor allem ihr Selbstwertgefühl, zu verlieren drohte.
In dieser Situation wurden das Christentum und die damit verbundene Gemeinschaft für die indigene Bevölkerung schon ab etwa 1930 als sinnstiftender und wertschätzender Zusammenhalt erfahrbar. Gleichzeitig bestand gleichwohl die Gefahr, dass die Kultur der indigenen Völker durch die Christianisierung ausgelöscht und verdrängt wurde. Denn mit dem Eintritt in den christlichen Glauben war auch die Erwartung verbunden, dass die Indigenen ihre traditionelle Lebensweise ablegen „…als die frühen Missionare die indigenen Christ*innen zu Gott bekehrt hatten, lehrten sie auch, ihre Gebräuche aufzugeben… Indigene Christ*innen wurden aufgefordert, ihre bisherige Kleidung zu verbrennen und ihre Kunstwerke und handwerkliche Gegenstände zu zerstören.“⁴
Gleichzeitig, so führt Chen Nan-Jou weiter aus, „…ist der Vorwurf, dass indigene christliche Kirchen zur Zerstörung der indigenen Kultur aufgefordert haben, nicht ganz fair. Von Anfang an haben indigene christliche Gemeinden das Evangelium in ihren Muttersprachen gepredigt, die Bibel in indigene Sprachen übersetzt und indigene Melodien aufgenommen.“⁵
Wie wirkte sich das Christentum auf die indigenen Gemeinden aus?
Die positive Bewertung, die die Christianisierung in der indigenen Bevölkerung bis heute erfährt, hat sicher mit dem frühen Eintreten der Christ*innen für die Rechte der Ureinwohner*innen zu tun, wie sie besonders von der Presbyterianischen Kirche in Taiwan in den jeweiligen politischen Systemen über einen langen Zeitraum bis heute praktiziert wird. In der theologischen Diskussion spielte seit den 1960er Jahren die Frage nach der Indigenisation des christlichen Glaubens in die Situation der taiwanesischen Kirchen eine wichtige Rolle. Shoki Coe,Theologe und Direktor des theologischen Seminars und College in Tainan, hatte seine Kirche aufgefordert, dafür zu sorgen, dass die theologische Ausbildung sich nicht nur an westlichen Vorbildern orientiert, sondern eigene Standards setzt. Die jungen Kirchen müssten sich dessen bewusst sein, dass das Evangelium beim Übergang in eine andere Kultur übersetzt und auf der Basis der neuen Kultur interpretiert werden muss.⁶ Es geht also, wie etwa in den lateinamerikanisch geprägten Befreiungstheologien, um kontextuelle Theologie. Dieses Denken hat unter anderem zur Gründung des presbyterianischen theologischen Yuhan-College und Seminars geführt, in dem indigene Pfarrer*innen und Kirchenleitende ausgebildet werden. Sie erlernen dort nicht nur den selbstbewussten, wertschätzenden Umgang mit ihrem kulturellen Erbe, sondern beispielsweise auch längst vergessene Melodien und Geschichten aus ihrer Kultur. Damit trägt das Christentum auch zur Bewahrung der indigenen Kultur bei.
Für die theologische Diskussion der Presbyterianischen Kirche in Taiwan heute ist der Beitrag der indigenen Gemeinden und Theolog*innen unverzichtbar. Sei es durch den Beitrag, den sie zu einem stärker schöpfungstheologisch verstandenen Missionsbegriff leisten (mit dem Verständnis, dass Gott in seiner Schöpfung immer schon präsent ist) oder durch die neue Auslegung biblischer Texte mit Hilfe ihrer traditionellen Vorstellungen und Bildern. Ein Beispiel dafür ist die neu veröffentlichte Bibel in der Sprache der Bunun.
Das Logo zeigt Hirse, den Mond und ein Buch. Hirse ist ein traditionelles Lebensmittel und symbolisiert das Lebensnotwendige. Der Mond steht als traditionelles Zeichen für Gottesdienst. So wird die lebenswichtige Bedeutung der Bibel für die Bunun dargestellt.
Um die Vielfalt ihrer Mitglieder auszudrücken und auf den unterschiedlichen Ebenen von Kirchen- und Gemeindeleitung zu repräsentieren, gibt es in der PCT ein Komittee für den Arbeitsbereich mit den indigenen Gemeinden (Indigenous Ministry Committee). Vavani Ljljegean, junges Mitglied einer Gemeinde der Paiwan, ist überzeugt: „ Durch ihre Geschichte hindurch ist die PCT und ihre Theologie eine treibende Kraft für die indigene Bevölkerung Taiwans. Sie hilft ihnen, nach ihrer verlorenen Kultur, ihren Sprachen und ihrer Identität zu suchen“.⁷
Wie sieht die Zukunft der indigenen Bevölkerung aus?
Auch wenn sich 2016 die taiwanesische Präsidentin Tsai Ing-wen für das erlittene Unrecht bei den Ureinwohner*innen entschuldigt hat, liegt bis zu einem versöhnten, gleichberechtigten Miteinander noch ein langer Weg vor den Taiwaner*innen. Die drängenden sozialen Fragen (Arbeitslosigkeit, Abwanderung aus den indigenen Gemeinden, Diskriminierung indigener Menschen) müssen gelöst und die Diskussion über einen juristischen Ausgleich für unrechtmäßig enteignetes Land geführt werden.⁸
Bedeutungsvoll für die Aufarbeitung erlittenen Unrechts in der Vergangenheit und die selbstbewusste Gestaltung des zukünftigen Zusammenlebens ist auch die weltweite Vernetzung indigener Völker untereinander (etwa in Arbeitsgruppen der United Nations). Da Taiwan seit 1971 seinen Sitz bei der UN verloren hat, bleibt die Insel auf diese Weise dennoch verbunden.
Ähnlich wichtig ist die Vernetzung der indigenen Mitglieder der PCT in ihren internationalen ökumenischen Beziehungen, wie beispielsweise im Taiwan Ecumenical Forum (TEF). Der Einsatz für die indigene Bevölkerung und ihr Beitrag für Theologie und Kirchenverständnis bleiben so auf der Tagesordnung der weltweiten Ökumene. Und der Weltgebetstag 2023 bietet die Chance, die Situation und den inneren Reichtum der indigenen christlichen Gemeinden Taiwans neu wahrzunehmen.
Barbara Deml, landeskirchliche Pfarrerin für Ökumene und Weltmission in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Sie ist im Berliner Missionswerk stellvertretende theologische Direktorin und Ostasienreferentin.
¹ Vgl. zu verschiedenen Aspekten C. Huang, D. Davies und D. Fell (Hg), Taiwan’s contemporary indigenous peoples. Taylor & Francis Group, 2021 (E-Book)
² Djinyini Gondarra, zitiert in Sudu Tada, Broadening Ecumenism as Solidarity for Justice and Peace in Taiwan and Beyond, TEF Handbook 2018, S. 209 http://acts.pct.org.tw/PCTContent/block/module/download.aspx?fid=M2007032600001_20190919131800_6
³ Ebd. S. 208
⁴ Chen Nan-Jou, Contextual Theology in Aboriginal Churches Today in: Taiwan Mission Quarterly, Vol. 10, No. 4, 2001, S.2 (Übersetzung B. Deml)
⁵ Ebd. S. 2
⁶ ebd.
⁷ Vavauni Ljaljegean, Taiwan Indigenous People’s Transitional Jusitice, TEF Handbook 2018, a.a.O., S. 19 und S. 23.
⁸ Die indigenen Mitglieder der PCT weisen immer wieder auf die Notwendigkeit eines Übergangsrechtes hin, Dazu gehört auch die Forderung, sich der eigenen Wurzeln bewusst zu sein.