Vorwärts ins 19. Jahrhundert

Die japanische Verfassung und das Kabinet ABE

Vorwärts ins 19. Jahrhundert?

 Eiichi KIDO

Der japanische Ministerpräsident, Shinzô Abe, ist offensichtlich in gehobener Stimmung, weil er gute Chance zu haben scheint, seinen innigsten Wunsch der Verfassungsänderung zu verwirklichen. Der Wahlsieg der LDP am 18. Dezember 2012 ist auf ein fast betrügerisches Wahlsystem zurückzuführen [i]. Trotzdem ändert das nichts an der Tatsache, dass die beiden rechtskonservativen Parteien, die LDP und die Restaurationspartei Japans [ii], mit militanten Parolen, gefördert auch durch die Aufrüstung Chinas und die Raketenschlag-Drohung Nordkoreas, insgesamt fast drei Viertel der Mandate im Unterhaus bekommen haben.

Abschied vom modernen Konstitutionalismus
Abe verbirgt seine eigentliche Absicht, den pazifistischen Verfassungsartikel 9 abzuschaffen. Stattdessen propagiert er, man solle zuerst den Artikel 96 ändern.
Dieser Artikel bestimmt das Verfahren der Verfassungsänderung. Eine Änderung der Verfassung bedarf nämlich der Initiative des Parlaments mit Zustimmung von mindestens zwei Dritteln aller Mitglieder in jedem Haus; die Änderung ist dem Volk vorzuschlagen und bedarf dessen Zustimmung. Abe hat die Absicht, die Zustimmung für die Parlamentsinitiative auf eine einfache Mehrheit abzusenken, um eine Verfassungsänderung wesentlich leichter zu machen.
Das bedeutet praktisch den Abschied vom modernen Konstitutionalismus, der den Regierenden Willkür verbietet und ihn in der Ausübung der Staatsgewalt den Bindungen der Verfassung unterwirft. Diese Art und Weise von Abe & Co erinnert an das NS-Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, das es möglich machte, dass die von der Regierung beschlossenen Gesetze von der Verfassung abweichen konnten.

Menschenrechte als Gnade der Obrigkeit
Im April 2012 hat die LDP ihren Verfassungsentwurf veröffentlicht. Der Fokus liegt natürlich auf dem Artikel 9, der auf die „Abschaffung des Krieges“ abzielt. Die LDP hat die Absicht, die „Abschaffung des Krieges“ abzuschaffen und stattdessen die „Sicherheit“ in den Vordergrund zu stellen. Laut der heutigen Verfassung sollte es dem japanischen Staat untersagt sein, Land-, See- und Luftstreitkräfte sowie andere Kriegsmittel zu unterhalten. Die LDP will die Existenz der Landesverteidigungstruppen (Kokubô-Gun) verfassungsrechtlich klar niederschreiben.
Aber der LDP-Verfassungsentwurf beinhaltet darüber hinaus eine grundlegende Rücknahme der modernen Volkssouveränität und Menschenrechte.
Man muss die Aufmerksamkeit darauf richten, dass das „Individuum“ verschwindet. Der Artikel 13 lautet: „Jeder Bürger wird als Einzelpersönlichkeit geachtet.“ Jedes Individuum wird nämlich als gleichwertig geachtet. Es hat das Recht auf Leben, Freiheit und Streben nach Glück. Auch dieses Recht muss gleichermaßen geachtet werden. Das ist der Grundtenor der Verfassung. Deshalb muss die Staatsgewalt die Menschenrechte der Individuen möglichst maximal achten. Natürlich darf kein Bürger Freiheiten und Rechte missbrauchen; jeder ist ständig verpflichtet, sie zum allgemeinen Wohl zu nutzen (Artikel 12). Aber das bedeutet nicht, dass der Staat wesentlich vor dem Individuum bevorzugt wird.
Im LDP-Verfassungsentwurf heisst es: „Jeder Bürger wird als Mensch geachtet.“ Der Bürger wird nicht mehr als Individuum, das miteinander die Unterschiede der Einzelpersonen anerkennt, sondern als Ganzes behandelt. Es geht um die Homogenität des Menschen. Überdies wird das Recht des Bürgers auf Leben, Freiheit und Streben nach Glück geachtet, „soweit es den öffentlichen Interessen und der öffentlichen Ordnung nicht entgegen steht.“ Offensichtlich hat die LDP die Denkweise, „die öffentllichen Interessen und die öffentliche Ordnung“ vor den Menschenrechten, den Staat vor dem Individuum zu bevorzugen.
Wenn die Obrigkeit bestätigt, dass es „den öffentlichen Interessen und der öffentlichen Ordnung“ entgegen steht, wird die Äußerungs- und Meinungsfreiheit des Individuums nicht mehr erlaubt. Das erinnert an die Meiji-Verfassung von 1889. Damals konnten japanische Untertanen nur „im Rahmen des Gesetzes“ die Freiheit der Rede, der schriftlichen Äüßerung, der Veröffentlichung, der Versammlung und der Vereinsbildung genießen. Unter dieser Verfassung wurden verschiedene Freiheiten eingeschränkt und unterdrückt. Für die geschichtsrevisionistische LDP, die den japanischen Angriffskrieg bis 1945 als „Selbstverteidigung“ und „Befreiung Asiens“ rechtfertigt, scheint es attraktiv zu sein, die Verfassung als Mittel zur Kontrolle des Volkes zu instrumentalisieren.
Die drei Prinzipien der heutigen Verfassung – Volkssouveränität, Menschenrechte und Pazifismus – und die Rolle der Verfassung überhaupt will die LDP von Grund auf widerrufen. Der Artikel 99 der heutigen Verfassung lautet: „Der Tennô oder Regent, die Minister, die Parlamentsmitglieder, die Richter und die übrigen öffentlichen Bediensteten haben die Pflicht, diese Verfassung zu achten und zu schützen.“ Dieser Verfassungartikel macht den Politikern und den öffentlichen Bediensteten zur Pflicht, dass sie bei Gesetzgebung und Administration die Rechte des Bürgers nicht verletzen dürfen.
Die LDP sieht es genau umgekehrt: „Jeder Bürger muss diese Verfassung achten.“ Auch in diesem Punkt kann man den atavistischen Rückschritt feststellen. Denn die oktroyierte Meiji-Verfassung bestimmte in der Präambel : „Meine gegenwärtigen und zukünftigen Untertanen sollen für immer die Verpflichtung zur Treue gegenüber dieser Verfassung auf sich nehmen.“
Der Tennô soll kein bloßes „Symbol der Einheit des japanischen Volkes“ mehr, sondern das Staatsoberhaupt sein. Er soll von der Pflicht, die Verfassung zu achten, befreit werden. Die LDP gibt unbefragt zu, dass sie die Absicht hat, im Namen des Tennôs willkürliche Machtdemonstration und Gewaltanwendung zu unternehmen.

Der Weg zum Kriegsstaat
Laut des LDP-Verfassungsentwurfes ist der Zweck der Erhaltung der Landesverteidigungstruppen nicht nur die Selbstverteidigung sondern auch die „Sicherung des Friedens und der Sicherheit der internationalen Gesellschaft in internationaler Zusammenarbeit“ und der „Erhalt der öffentlichen Ordnung bzw. Schutz des Lebens und der Freiheit des Volkes“. Das bedeutet praktisch, dass Japan in der Zukunft auf der Seite der USA, wenn auch ohne UNO-Mandat, ständig und global militärisch präsent sein und möglicherweise Menschen töten wird. Außerdem hat die LDP die Absicht, das Militär im Inland einzusetzen.
Als Kapitel 9 hat die LDP den „Notstand“ neu definiert. Der Ministerpräsident soll eine Notstandserklärung proklamieren können beim „bewaffneten Angriff von außen gegen unser Land, Verwirrung der gesellschaftlichen Ordnung wie Bürgerkrieg und großen Naturkatastrophen wie Erdbeben.“ Es ist völlig lächerlich, urplötzlich „Naturkatastrophne“ beizufügen. Gab es in Japan bei der dreifachen Katastrophe 2011 etwa einen Aufstand gegen die „öffentliche Ordnung“? Ein Bürgerkrieg oder eine bewaffnete Revolution ist in Japan auch undenkbar. Die Notstandsregelung nimmt nichts anderes als Krieg an. Indem man den Artikel 9 ändert und diese Notstandsregelung einführt, wird Japan mit Sicherheit zu einem Land werden, das Krieg führen kann.
Wenn einmal die Notstanderklärung proklamiert wird, bekommt das Kabinett außerordentlich große Macht. Es kann einen Regierungserlass anordnen, der die gleiche Wirksamkeit wie ein Gesetz hat. Die Obrigkeit kann dann ohne Zustimmung des Parlaments die Rechte der Bürger einschränken. Dabei muss jeder „den Anweisungen des Staates und der anderen öffentlichen Einrichtungen folgen.“
Die Notstandsregelung bereitet nämlich die Generalmobilisierung vor. Das ganze Volk muss dann mit aller Kraft für den Krieg mitwirken. Die Wiedereinführung der Wehrpflicht ist keineswegs grundlos. Will Japan irgendwann mal wieder einen totalen Krieg?

 

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Anmerkungen: 
i Nur 180 der 480 Sitze des japanischen Unterhauses werden in regionalen Wahlkreisen proportional zum Stimmenanteil den Parteien vergeben; die LDP holte davon 57. Von den anderen 300 Sitzen holte sie ganze 237, obwohl ihre Kandidaten im Schnitt nur 48 Prozent der Stimmen erhielten. Denn in den 300 Wahlkreisen gewinnt der Kandidat mit den meisten Stimmen, alle Anderen gehen leer aus.

ii Sie wurde im September 2012 von der Regionalpartei „Verein zur Restauration Osakas“ von Tôru Hashimoto, ehemaliger Gouverneur von Osaka und amtierender Oberbürgermeister der Stadt Osaka, zusammen mit Abgeordneten des nationalen Parlaments gegründet. Neben Hashimoto, ist Shintarô Ishihara, ehemaliger Gouverneur von Tokio, Parteivorsitzender. Im Parteiprogramm vom 30. März 2013 wird die japanische Verfassung beschimpft als „Wurzel allen Übels, die Japan zur Isolation und dem Gegenstand der Geringschätzung herabgesetzt und die unrealistische Kollektivillusion des absoluten Friedens aufgezwungen hat.“

 

 

 

 

Artikel 9



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