2012: Änderung der Verfassung in Japan?

Poltik in Japan - Artikel 9 der Verfassung

Braucht Japan eine neue Verfassung?

Mira Sonntag
(Rikkyo Universität, Tokyo)

Umfragen zufolge unterstützen derzeit 92% der japanischen Bevölkerung (Sankei News, 31.8.2012) eine Verfassungsänderung. Dieser Prozentsatz stellt den höchsten Zuspruch in der Geschichte der Nachkriegsverfassung dar. Freilich wurde praktisch seit ihrer Proklamation im Jahr 1946 insbesondere über die Interpretation von Artikel 9 und seit den 1990ern zunehmend auch über die Berechtigung einer „von außen aufgedrückten" Verfassung als solcher diskutiert. Dennoch überrascht eine derartig hohe Unterstützung für eine Änderung so manchen Beobachter. Nun darf dieser Prozentsatz nicht von vornherein als Ausdruck zunehmender reaktionärer Stimmung interpretiert werden. Vielseitig sind die Gründe für diese Entwicklung. Vielfältig sind auch die Entwürfe, die zur Diskussion stehen. Dennoch steht es für nicht wenige Japaner –– unter ihnen auch Christen –– außer Zweifel, daß dieser Umschwung der öffentlichen Meinung kritisch beurteilt werden muß.

Der folgende Artikel soll einen bescheidenen Beitrag zur kritischen Beurteilung leisten und dem ausländischen Leser und Weltbürger Einblick in die gegenwärtigen politischen Bedürfnisse Japans bieten. Der Fokus soll hierbei auf Artikel 9 liegen,

der den japanischen Pazifismus, dem sich die gesamte Verfassung durch ihre Präambel verpflichtet sieht, mit der konkreten Absage an Krieg als sourveränes Recht der Nation zur Lösung internationaler Konflikte und dem Verzicht auf landeseigene Truppen zu verwirklichen sucht.

 

(Verfassungstext in der deutschen Übersetzung)

„Art. 9, 1: In aufrichtigem Streben nach einem auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden verzichtet das japanische Volk für alle Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und auf die Androhung oder Ausübung von Gewalt als Mittel zur Beilegung internationaler Streitigkeiten.

2: Um das Ziel des vorhergehenden Absatzes zu erreichen, werden keine Land-, See- und Luftstreitkräfte oder sonstige Kriegsmittel unterhalten. Ein Recht des Staates zur Kriegsführung wird nicht anerkannt

 

Die Auslegung von Artikel 9 in historischer Perspektive

Mit Verweis auf eine ähnliche Formulierung im Text des Antikriegspaktes von 1928 wurde Artikel 9 zumeist als Absage an Aggressionskriege interpretiert, von der das Recht zur nationalen Selbstverteidigung ausgeschlossen sei. (Die folgenden Ausführungen beruhen im Wesentlichen auf Umedas Bericht für die Law Library of Congress der USA.) Berühmte Ausnahmen bilden die Positionen von Miyazawa Toshiyoshi, Kiyomiya Shirô und Urabe Noriho, welche die konfliktlösende Funktion von Verteidigungs- wie Aggressionskriegen und die grundsätzliche Schwierigkeit einer Unterscheidung der beiden Kriegsarten betonen. Während die Argumente der genannten Wissenschaftler allgemeine Zustimmung erfuhren, wurde ihre Schlußfolgerung, nämlich die vollständige Verneinung militärischer Mittel in Regierungs- wie Forschungskreisen nicht akzeptiert.

Der erste Absatz von Artikel 9 schließt nach Meinung der Forschermehrheit Verteidigungskriege nicht aus. Der zweite Absatz schreibe jedoch vor, daß die Selbstverteidigung nicht durch ein stehendes Heer, sondern ausschließlich durch Polizeikräfte und im Angriffsfall ad hoc eingezogene Zivilisten erfolgen darf. Folglich erlosch die Diskussion um die Verfassungskonformität der 1954 gegründeten Japanischen Selbstverteidungskräfte (jieitai) nie ganz. Über die Jahrzehnte wurde ein Konsens erarbeitet, der diese Truppen nicht als „Streitkräfte" (Engl. war potenial, Jap. senryoku), sondern als „Verteidigungskräfte" (Engl. defense potential, Jap. jieiryoku) interpretiert.

 

Im Kontext des Sicherheitspaktes mit den USA wurde desweiteren immer wieder diskutiert, ob Japan das Recht zur „kollektiven Selbstverteidigung" habe. Dabei zielte die Fragestellung in zwei Richtungen: Einerseits wurde diskutiert, ob Japan sich unter Inanspruchnahme amerikanischer Unterstützung militärisch verteidigen darf. Andererseits wurde gefragt, ob ein Angriff auf amerikanische Militärbasen in Japan mit japanischer Hilfe abgewehrt werden darf. Zur positiven Beantwortung dieser beiden Fragestellungen wird im Allgemeinen Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen herangezogen. Und da ein Angriff auf amerikanische Basen in der Regel japanisches Territorium involvieren würde, wurde betont, daß der Bündnisfall zunächst eine Frage der Selbstverteidigung sei. 1960 führte die militärische Unterstützung der amerikanischen Truppen im Korea-Krieg durch Japan zu machtvollen Protesten angesichts der damals verhandelten Verlängerung des Sicherheitspaktes.

Bereits seit 1952 wacht das Legislativbüro des Kabinetts über die Einhaltung der Verfassung bei neuen Gesetzentwürfen und bemüht sich um eine konsistente Interpretation von Artikel 9. Die Debatte um die „kollektive Selbstverteidung" gewann jedoch während des Golfkrieges erneut an Brisanz, als die rein finanzielle Unterstützung von japanischer Seite nicht hinreichend gewürdigt wurde. Um künftig sichtbarer an Missionen der Vereinten Nationen teilnehmen zu können, wurde 1992 das Gesetz zur Durchführung von Blauhelm-Missionen (PKO Law) verabschiedet, das Aktionen erlaubt, die nicht als „Ausübung von Gewalt" ausgelegt werden können.

1994 reagierte das Legislativbüro des Kabinetts schließlich mit einer eindeutigen Wortmeldung auf den Druck von Parlamentsmitgliedern, die eine Neuinterpretation des „kollektiven Verteidigungsrechts" gefordert hatten, und schlug eine Änderung der Verfassung vor. „Wenn die Regierung eine Politik verfolgen möchte, die eine Neuinterpretation der Verfassung voraussetzen würde, dann sollte die Regierung beginnen, die Verfassung zu ändern," so faßt Umeda Sayuri die Position des Büros zusammen (Umeda, S. 16) . Sie vermutete 2006, daß das Legislationsbüro des Kabinetts eher eine Verfassungsänderung zu befürworten bereit sei, als die Verantwortung für die Autorisierung einer neuen Interpretation zu übernehmen.

Die Entwicklung seit den 1990ern

Seither kommt die Diskussion um eine Verfassungsänderung nicht zur Ruhe. Die nordkoreanischen Raketentests seit 1993 und die Kooperation mit den USA im „Krieg gegen den Terror" nach 2001, aber auch das 50- bzw. 60jährige Jubiläum der Proklamation der Nachkriegsverfassung gaben immer wieder neue Impulse. 2003 verabschiedete das Parlament mit überwältigender Mehrheit das „Gesetz zur Sicherstellung der nationalen Unabhängigkeit und Sicherheit im Falle eines militärischen Angriffs", dessen Regelungen nach Meinung der meisten Verfassungsrechtler den Rahmen der bestehenden Verfassung überschreiten. 2004 wurden insgesamt 7 verschiedene Gesetze für den militärischen Ernstfall verabschiedet. (Umeda, S. 27)

Während die damalige Liberaldemokratische Regierung vorgab, nach wie vor lediglich auf der Grundlage des Selbstverteidigungsrecht Japans zu agieren, förderte sie gleichzeitig die Karikierung von Verfassungsrechtlern, die die existierenden Selbstverteidigungskräfte weiterhin als verfassungswidrig postulierten. Diese wurden als weltfremder „Don Quixote" und ihre Argumente als „theologische Debatte" abgelehnt. Vor Gerichten fanden sie immer weniger Gehör. Umeda konstatiert, daß Verfassungsrechtler seit den 1990ern aufgrund der mangelnden Unterstützung durch gerichtliche Instanzen zunehmend resigniert haben und sich somit ein Graben zwischen der offiziellen Interpretation durch die Regierung und der „stillen" Position der Verfassungsrechtler aufgetan habe. Hinzu käme, daß jüngere Verfassungsrechtler sich eher von praktischen Gesichtspunkten leiten lassen (Umeda, S. 28).

Da eine Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern des Parlamentes nötig ist, um eine Verfassungsänderung überhaupt auf die Tagesordnung des Parlaments zu setzen, gab es bisher keine Parlamentsdebatte, die einen konkreten Verfassungsentwurf zu diskutieren hatte. Seit 2005 befaßt sich jedoch ein von der Liberaldemokratische Partei (LDP) dominierter Ausschuß des Unterhauses mit der Prüfung der Verfassung (Shûgiin kempô chôsakai, und die Nachfolgeorganisation Shûgiin kempô shinsakai), dessen Berichte online verfügbar sind. Außerdem nimmt eine Bürgerhotline (Kempô no hiroba) Fragen entgegen.

Parallel zum Ringen um einen neuen Verfassungstext wird Werbung für den zur Verfassungsänderung außerdem notwendigen Volksentscheid gemacht. Die LDP wollte den Gesetzentwurf zum Volksentscheid eigentlich schon 2006 durch das Parlament bringen, entschied sich im letzten Moment aber für eine andere Prioritätensetzung (d.h. das Eilverfahren zur Verabschiedung eines neuen Grundgesetzes zur Erziehung). Der Wahlsieg der oppositionellen Demokratischen Partei (DPJ) brachte 2009 für die LDP zunächst neue Hindernisse, obwohl auch die DPJ in vielen Punkten konservative Positionen vertrat. Das Gesetz zum Volksentscheid, in dem das Mindestalter zur Stimmberechtigung von 20 auf 18 Jahre herabgesetzt wurde, wurde schließlich im Mai 2010 verabschiedet. Die dreifache Katastrophe im März 2011 brachte danach ganz neue Herausforderungen. Im Kampf mit den Folgen sieht sich die DPJ mit immer neuen Tiefpunkten auf der Sympathieskala der Bevölkerung konfrontiert und der Druck zu Neuwahlen wächst.

Seit den Wahlen von 2009 kursierten bereits verschiedenste Verfassungsentwürfe: von Parteien, darunter auch religiös motivierten, wie einzelnen Politikern. Und die seit 2009 in Opposition agierende LDP beschloß nun am 27. April 2012 (d.h. dem letzten Werktag vorm Geburtstag des Showa-Tennô) einen Verfassungsentwurf, der in den Medien fleißig diskutiert wird.

Der Verfassungsentwurf der LDP vom April 2012

Darin fordert die LDP zunächst in Artikel 1 zur Stellung des Tennô zusätzlich zur bisherigen Funktion als „Symbol (shôchô) der Einheit des japanischen Volkes" die Voranstellung seiner Funktion als „Staatsoberhaupt" (genshu). In den folgenden Absätzen wird der Tennô dann von seiner „Gängelung" durch das Kabinett „befreit". Schon dieser Punkt allein stellt einen enormen Eingriff in das Nachkriegsverständnis der Rolle des Tennô dar und wäre in einem gesonderten Artikel zu erörtern. Auch auf die vielseitigen Korrekturvorschläge zur Gewichtung von privatem und kollektivem Interesse u.ä. kann ich hier leider nicht eingehen. Welchen Vorschlag macht die LDP nun aber zum Artikel 9?

Artikel 9 findet sich im 2. Kapitel, das gegenwärtig mit „Abschaffung des Krieges" überschrieben ist. Als neue Überschrift schlägt die LDP „Sicherheit" (anzen hoshô) vor:

(Text in deutscher Übersetzung der Autorin, Änderungen kursiv, Text siehe Homepage der LDP)

„2. Kapitel Sicherheit

(Pazifismus)

Art. 9: In aufrichtigem Streben nach einem auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden verzichtet das japanische Volk für alle Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und verwendet keine Androhung oder Ausübung von Gewalt als Mittel zur Beilegung internationaler Streitigkeiten.

2. Die Regelung des vorhergehenden Absatzes berührt das souveräne Recht auf Selbstverteidigung nicht.

(Landesverteidigungstruppen)

Art. 9, Teil 2: Zur Sicherung des Friedens und der Unabhängigkeit unseres Landes sowie der Sicherheit des Landes und Volkes werden Landesverteidigungstruppen unterhalten, die dem Ministerpräsidenten als Oberbefehlshaber unterstellt sind.

2. Bei der Durchführung der im vorgehenden Absatz beschriebenen Aufgaben sind die Landesverteidigungstruppen nach gesetzlicher Vorschrift der Zustimmung und weiteren Kontrolle durch das Parlament unterworfen.

3. Die Landesverteidigungstruppen dürfen neben der Durchführung der in Absatz 1 beschriebenen Aufgaben nach gesetzlicher Vorschrift auch Aktionen durchführen, die zur Sicherung des Friedens und der Sicherheit der internationalen Gesellschaft in internationaler Zusammenarbeit ausgeführt werden, sowie Aktionen, die dem Erhalt der öffentlichen Ordnung bzw. dem Schutz des Lebens und der Freiheit des Volkes dienen.

4. Neben den Regelungen der beiden vorhergehenden Absätze werden zusätzliche gesetzliche Regelungen über die Organisation, Kontrolle und Geheimhaltung der Landesverteidigungstruppen festgelegt.

5. Zur Verurteilung eventuell bei der Dienstausführung von Angehörigen der Landesverteidigungstruppen und sonstigen Beamten begangener Vergehen oder Mißachtung der Geheimhaltungsvorschriften wird auf Basis einer gesetzlichen Regelung ein Militärgericht der Landesverteidigungstruppen eingesetzt. In diesem Fall muß das Recht des Angeklagten auf Anrufung einer höheren Instanz gewahrt bleiben.

(Sicherung des Landesterritoriums etc.)

Art. 9, Teil 3: Zum Erhalt der Souveränität und Unabhängigkeit muß der Staat in Zusammenarbeit mit dem Volk sein Territorium zu Land, zu Wasser und in der Luft schützen und die darin befindlichen Resourcen sicherstellen."

Die Forderungen sind eindeutig und weisen bereits auf die wieder aufgebrochenen Konflikte mit Rußland, China/Taiwan und Korea um gewisse Inselgruppen hin. Was allerdings bedeutet die Unterstellung der Landesverteidigungstruppen unter den Ministerpräsidenten als Oberbefehlshaber, wenn der Tennô gleichzeitig zum Staatsoberhaupt deklariert wird?

Die Befürworter einer Verfassungsänderung

Kurz nachdem dieser Entwurf von der LDP verabschiedet wurde, tagte die besagte Kommission des Unterhauses zur Prüfung der Verfassung und erfaßte grundsätzliche Standpunkte der einzelnen Parteien. Diese wurden in verschiedenen Medien graphisch aufbereitet (z.B. unter: http://www.jiji.com/jc/v?p=ve_pol_politics20120531j-02-w430). Demnach befürworten die LDP, die neuen Parteien „Band" (Kizuna), „Partei aller" (Minna no tô) und die „Neue Volkspartei" (Kokumin shintô) eine Änderung von Artikel 9, während die „New Komeito" (d.h. der politische Arm der „Sokka Gakkai"), die „Kommunistische Partei" und die „Sozialdemokratische Partei" eine Verfassungsänderung strikt ablehnen. Im Artikel wird darauf hingewiesen, daß einige Gruppierungen nicht in der Kommission vertreten sind. Mit besonderer Sorgfalt wird jedoch die Position der DPJ in Szene gesetzt. Als Regierungspartei führt sie die Liste zwar an, enthält sich jedoch einer eindeutigen Position. Die unentschlossene Position der DPJ ist der eigentliche Fokus dieser Grafik.

Verschiedene Medien brachten daraufhin die sinkende Sympathiekurve der Bevölkerung für die DPJ-Regierung mit deren unklarer Position zur Verfassungsänderung in einen Zusammenhang. Am 1. Mai etwa berichtete die Sankei Shimbun gemeinsam mit dem Fuji News Network auf Grundlage einer Umfrage, die an den beiden Tagen nach der Veröffentlichung des Verfassungsentwurfes gemacht worden war, Folgendes: „52 % für eine Verfassungsänderung, 71 % für eine schriftliche Fixierung des Selbstverteidigungsrechts." Dem Artikel wurde außerdem ein Verweis auf den Rückgang der Unterstützung für das Kabinett Noda auf 22 % vorangestellt. (Siehe Sankei Express, 1.5.2012, S. 2) Diese Umfrage wurde in verschiedenen konservativen bis ultranationalen Medien (z.B. Sakura Channel) als Hoffnungszeichen interpretiert. Betont wurde dabei insbesondere, daß ca. 70 % der Befürworter einer Verfassungsänderung Männer und Frauen (zu gleichen Teilen) in ihren 30ern seien.

Inzwischen ist die Unterstützung für das Kabinett Noda nach einem zwischenzeitlichen Aufschwung wieder auf 18 % gesunken. Dabei findet die Persönlichkeit des Premierministers selbst immer noch Sympathien in einem weitaus höherem Maße (ca. 40%). Hinsichtlich des (mittelfristigen) Verzichts auf Kernkraft entspricht die Position der DPJ im Gegensatz zu der der LDP den Wünschen der Mehrheit der Bevölkerung. Es sind vor allem Nodas Personalentscheidungen, die kritisiert wurden. Während um den Rücktritt einzelner Minister gerungen wird, ist die Frage der Verfassungsänderung zwischenzeitlich in den Hintergrund getreten.

Doch nicht für lang. Während einer Vortragsveranstaltung am 29. September in Ayabe in der Nähe von Kyoto erklärte der frisch gewählte Vorsitzende der LDP, Abe Shinzô, der bereits 2006 ein Jahr lang als Premierminister fungierte, daß er die Verfassungsänderung in die Agenda des Wahlkampfes für die nächsten Unterhauswahlen aufnehmen will. Gleichzeitig macht er deutlich, daß die LDP deshalb nur Kandidaten für die Wahl aufstellen wird, die eine Verfassungsänderung aktiv unterstützen. Ob die LDP dadurch die Wahlen gewinnen kann?

Politische Bedürfnisse der Bevölkerung

Wenn die Diskussion um eine Verfassungsänderung (insbesondere) von der LDP bereits seit über 15 Jahren ohne „große" Fortschritte und vor allem ohne breiten Zuspruch der Bevölkerung geführt wurde, dann fragt sich, wieso sich ausgerechnet jetzt 92 % der Bevölkerung für eine Verfassungsänderung aussprechen. Die Umfrage, die Ende August unter 4135 Männern und 543 Frauen zu diesem Ergebnis geführt hat, weist außerdem aus, daß 91 % der Befragten die Verteidigungstruppen als „Militär" etabliert sehen wollen. Einen Widerspruch bergen die Zahlen dennoch: Wenn 75 % der Befragten die Verteidigungskräfte (bereits heute) für verfassungskonform halten, wozu ist eine Änderung von Artikel 9 dann überhaupt erforderlich?

Im Artikel zur Umfrage werden auch Meinungen von einzelnen Befragten wiedergegeben. So meint beispielsweise ein 60jähriger Firmenangestellter aus Kagawa:"Oft zeigt sich, daß unsere nächsten Nachbarn Japan gering schätzen. Das macht mich jedes Mal traurig und ärgerlich. Für einen Staat ist militärische Stärke ein unerläßliches Element."

Ein 21jähriger Student aus Chiba sieht folgende Gründe: „Die Japaner haben in der Nachkriegszeit schon fast übermäßig nach Frieden gedürstet. Darüber haben sie verlernt, sich selbst zu beschützen."

Ein 44jähriger Unternehmer, wohnhaft in Bangkok, konstatiert eine nationale Krise: „Gerade weil die Staatspolitik in der Krise steckt, sollten wir noch einmal unsere ursprünglichen Absichten korrigieren. Aus den Verteidigungskräften (jieitai) müssen Verteidigunstruppen (jieigun) werden."

Ein 16jähriger Oberschüler aus Aichi betont: „Angesichts der Entwicklung unserer Nachbarstaaten Korea, China und Rußland sollten wir die Fähigkeiten unserer Verteidigungskräfte stärken. Auch zu diesem Zweck muß der Artikel 9 geändert werden. Die Verfassung wurde uns ohnehin von den Alliierten aufgedrückt. Sie ist nicht im Sinne des japanischen Volkes verfaßt."

Eine 49jährige Hausfrau aus Nagano widerum erklärt, wie sich ihre Sicht auf Artikel 9 mit der Zeit geändert hat: „Früher war ich der Meinung, daß wir uns unbedingt an Artikel 9 halten müssen. Aber leider sehe ich inzwischen, trotz meines Wunsches nach Frieden, die Notwendigkeit, uns gegen die Nachbarn zu schützen."

Die Angst vor den Nachbarn –– Mangelndes Vertrauen in den Bündnispartner

Offensichtlich ist den Japanern das in der Verfassung beschworene Vertrauen in den friedliebenden Willen der Völker der Welt abhanden gekommen. Im Nachhinein fällt es mir schwer, die korrekte Abfolge der Ereignisse zu rekonstruieren. Hatte China schon vor dem Vorstoß zur Verstaatlichung der Senkaku-Inseln mit dem Säbelrasseln begonnen? Oder war es von Japan herausgefordert worden? Die Aktionen ultranationaler Kreise zur Verstaatlichung der Senkaku-Inseln waren bereits im Sommer 2011 intensiviert worden. In der bereits genannten Umfrage von Sankei Shimbun und Fuji News Network befürworteten Ende April 2012 71 % der Befragten den Ankauf der Senkaku-Inseln durch die Präfektur Tokyo unter Führung von Gouverneur Ishihara Shintarô. Und 84,5 % stimmten gar für eine Verstaatlichung der Inseln. Welche Folgen dieser Ankauf hatte, haben die Ereignisse der letzten Wochen gezeigt.

Abe Shunzô behauptet derweil auf der genannten Veranstaltung in Ayabe, daß „China zu Zeiten der LDP-Regierung seinen Ehrgeiz nie so offen gezeigt hat." Damit kritisierte er die „außenpolitische Schwäche" der DPJ-Regierung. Um China in die Schranken zu weisen, müsse das Japanisch-Amerikanische Bündnis gestärkt und die Verfassungsauslegung, nach der Japan das Recht auf kollektive Selbstverteidigung versagt sei, korrigiert werden.

Nachrichten im Frühsommer über Truppenübungen der chinesischen Marine waren in Japan mit dem Angebot an die Medien beantwortet worden, ein Atom-U-Boot der in der Nähe von Tokyo stationierten amerikanischen Truppen von innen zu besichtigen. Der im April erfolgte „Satellitenstart" Nordkoreas, der in den japanischen Medien ausschließlich als „Raketentest" bezeichnet wurde, führte zur (vorübergehenden) Installation von schweren Raketenabwehrgeschützen in Wohngebieten.

Zwar ist der Konflikt mit Rußland um die „nördlichen Territorien" vor dem Streit mit China etwas in den Hintergrund getreten. Und als Bündnispartner der USA bemüht sich auch Korea den Streit um die Insel Takeshima nicht gar zu sehr aus dem Ruder laufen zu lassen. In Internetforen fragen sich Japaner derzeit dennoch, wie stark die koreanische Armee eigentlich sei und ob man wirklich darauf vertrauen könne, daß sie unter der Kontrolle der amerikanischen Truppen steht.

Andererseits mehrt sich das Unbehagen dem eigenen Bündnispartner gegenüber. So sehr Japan sich auch nach militärischer Stärke sehnt, will es doch selbst über die Positionierung von Basen und die Auswahl von Kampfgerät entscheiden. Die langwierigen und letztlich erfolglosen Verhandlungen mit den USA um die Verlegung der Militärbasen in Okinawa, der ebenso erfolglose Widerstand gegen die Stationierung der „nicht ausgereiften" Osprey-Helikopter und der erneute Fall sexueller Gewalt von stationierten Truppen an der japanischen Bevölkerung vor Ort; all diese Nachrichten tragen zum Bedürfnis nach militärischer Unabhängigkeit bei. Doch dieser steht vermeintlich der Verfassungsartikel 9 im Weg.

Kann eine Verfassungsänderung die Probleme mit Rußland, China und Korea lösen?

Erinnern wir uns an den Verfassungsentwurf der LDP vom April dieses Jahres. Dort wird die Sicherung der Landesterritorien und der darin befindlichen Resourcen explizit als Aufgabe der Landesverteidigungstruppen genannt. Doch wie gedenkt die LDP im Falle eines Wahlsiegs mit „strittigen" Territorien zu verfahren? Premierminister Noda favorisiert derzeit die Lösung durch ein internationales Gerichtsverfahren. Würde Japan um der Senkaku-Inseln willen auch einen Krieg riskieren? Diese Frage stellen sich heute immer mehr Menschen.

Seit 2002 gibt es Pläne, die dort lagernden unterseeischen Vorkommen von Erdöl und Erdgas zu erschließen. Seit sieben Jahren ist bekannt, daß dort auf dem Chinesischen Schelf außerdem die weltweit größten Vorkommen an Methanhydrat liegen. An dessen Erschließung und industriellen Förderung arbeitet nicht nur Japan. Das um Takeshima und die Senkaku-Inseln lagernde Methanhydrat gilt als Zukunftsenergielieferant, der Japans Bedarf gut und gern für die nächsten 100 Jahre decken könnte.

Es ist diese Aussicht, die einen Krieg um die Territorien realistisch erscheinen läßt. Es wurden bereits teure Kriege um geringere Mengen an Energieresourcen geführt. Fraglich ist freilich, ob sich die USA in einen solchen Krieg als Bündnispartner hineinziehen ließen.

Erwartungsvolle Blicke nach Rechts

Obwohl Japan in der Nachkriegszeit überwiegend von der LDP regiert wurde, mehren sich die Zeichen dafür, daß der Kampf in Zukunft nicht zwischen ihr und der DPJ ausgetragen wird. Seit einigen Jahren hat sich die Parteienlandschaft durch eine Vielzahl von Neugründungen diversifiziert. Die regionale Partei „Osakas Restaurationspartei" (Ôsaka ishin no kai) unter der Führung von Osakas jung-dynamischem Bürgermeister Hashimoto Toru hat durch drastische Maßnahmen Aufmerksamkeit erregt (z.B. Reduzierung des Stadtparlaments auf zwei Drittel seiner ursprünglichen Größe, Tätowierungsverbot für Angestellte des öffentlichen Dienstes, Dienstanordnung an alle Lehrer im öffentlichen Dienst zum Singen der Nationalhymne, Neustart eines AKWs nach Abschaltung aller japanischen AKWs). Es scheint, daß „hartes Durchgreifen" an Popularität gewinnt. Hashimotos „Osakas Restaurationspartei" führte sein einigen Monaten Gespräche mit Politikern der LDP, DPJ und Parteilosen (darunter auch Ishihara) über die Möglichkeit einer gemeinsamen Neugründung als „Japans Restaurationspartei", die schließlich im Oktober verwirklicht wurde. Es heißt, Hashimotos Partei sei „das Auge des Taifuns, um das herum sich die politische Neuordnung in Wellen vollzieht."

Vor diesem Hintergrund wurde die Haltung der Bevölkerung zu Hashimotos Partei in regelmäßigen Umfragen evaluiert. Selbst in Umfragen des Hashimoto nicht wohl gesonnenen Senders TV Asahi antworten derzeit 46 % von 516 Befragten, daß sie große Hoffnungen in die neugegründete Partei, den sogenannten „3. Pol" setzen. (Im September waren es noch 54 %.) Noch käme die Partei bei der nächsten Unterhauswahl nicht über 5 %, doch diese Situation kann sich schnell ändern, da ein Viertel der Befragten insgesamt noch unentschlossen ist. Während Hashimoto mit dem Gedanken spielt, als Bürgermeister zurückzutreten und „groß" in die Landespolitik einzusteigen, hat Ishihara diesen Schritt am 25.10.2012 vollzogen.

Ishiharas Rücktritt als Gouverneur von Tokyo

Ishiharas Rücktritt als Gouverneur von Tokyo kam für einige überraschend, ist jedoch erwiesenermaßen motiviert durch das Anliegen, seine Kräfte mit Hashimotos Partei zu vereinigen und den „rechten Flügel" bei den nächsten Unterhauswahlen anzuführen. Damit will der 80jährige „seinen letzten Staatsdienst leisten." Dennoch zielt er nach eigenen Angaben nicht auf den Posten des Premierministers. Es gehe ihm lediglich darum, „als Vorbohrer im Tunnel für frische Luft in der Staatspolitik zu sorgen."(Sankei News, 25.10.2012)

Auch wenn Ishihara sich als „Vorbohrer" genau überlegen wird, welche Äußerungen im Wahlkampf Stimmen bringen, so hat er seine Position in der Vergangenheit oft genug deutlich gemacht. Man kann nur hoffen, daß diese Äußerungen nicht vergessen werden (Saitô Takao in Nikkan Gendai, 10.8.2011). In Antwort auf die Atomkatastrophe im März 2011 schlug er beispielsweise vor, den allgemeinen Wehrdienst einzuführen und die japanische Armee mit Atomsprengköpfen aus eigener Produktion auszustatten. Nach dem Ausscheiden aus dem Olympiabewerbungsverfahren hatte er 2005 bereits verkündet, daß nicht Olympiaden, sondern echte Kriege eine Nation stark machten. Ist sein Rücktritt vom Gouverneursposten der erneut im Bewerbungsverfahren für die Olympischen Spiele befindlichen Präfektur Tokyo nun also nach dem Ankauf der Senkaku-Inseln der nächste Schritt im Programm zur Schaffung einer „starken japanischen Nation"?

Ein (nicht prophetischer) Ausblick

Mit einem Ausblick soll dieser Artikel enden. Die „Stärke" der Nachbarn weckt in Japan das Bedürfnis nach eigener Stärke. Vielleicht spielen auch versteckte Zweifel am Bewältigungspotenial der USA bei Konflikten in Asien eine Rolle. Seit 1945 hat Japan versucht, seine Selbstbehauptung auf den wirtschaftlichen Sektor zu beschränken. Doch der Platz 2 auf der Weltrangliste mußte 2010 an China abgegeben werden. Die Dreifachkatastrophe bedeutete ein enorme, zusätzliche wirtschaftliche Belastung.

Da das Bewußtsein für Weltranglisten weiterhin stark ist, empfiehlt der Soziologe Robert N. Bellah Japan, sich über seine hohe Platzierung nach Kriterien sozialer Entwicklung zu freuen (Siehe Ian Morris, Why The West Rules — For Now) und „Stärke" durch selbstbewußtes Auftreten als Diplomat in der Weltpolitik zu zeigen. Er wünscht sich Japan als Mediator zwischen den USA und China (Bellah am 6.10.2012 auf einem Symposium an der Rikkyo Universität, Tokyo).

Angesichts der Entwicklung der Diskussion um Artikel 9 scheint es mir jedoch zweifelhaft, ob Japan solchen Erwartungen entsprechen will und kann. Nichtsdestotrotz, um der eigenen Identität willen muß Japan sein Konzept der Stärke überdenken. Und dieses Überdenken sollte auf einer Vision für Japans Wirken in der Welt beruhen. Vielleicht ist es ja an der Zeit, sich auf die „Lehre vom kleinen Land" (shôkokuron) führender Denker der Meiji-Zeit, d.h. der Gründerzeit des modernen japanischen Staates, zu besinnen und seine moralischen Führungsfähigkeiten zu erweitern?

Dr. Mira Sonntag arbeitete von 2005-2010 als Ökum. Mitarbeiterin des Tomisaka Christian Center in Tokyo, ausgesandt von EMS/DOAM. Sie unterrichtet seit 2010 an der Rikkyo Universität. Als korrespondierendes Mitglied gehört sie zum Vorstand der DOAM.

 

Literaturnachweise in Reihenfolge ihrer Erwähnung:

„Têma kempô kyûjô –– kaisei ni sansei 92 %," Sankei News, 31.8.2012. Letzter Zugriff am 23.10.2012 unter:

http://sankei.jp.msn.com/politics/news/120831/plc12083107460008-n1.htm

Law Library of Congress, "Japan: Article 9 of the Constitution" (prepared by Umeda Sayuri in February, 2006). Letzter Zugriff am 23.10.2012 unter:

http://www.loc.gov/law/help/JapanArticle9.pdf

Jiyûminshutô (LDP), Nihonkoku kempô kaisei sôan (Genkô kempô taishô). Letzter Zugriff am 23.10.2012 unter:

http://www.jimin.jp/policy/policy_topics/pdf/seisaku-109.pdf

Nachrichten der Unterhauskommission zur Prüfung der Verfassung. Letzter Zugriff am 23.10.2012 unter:

http://www.shugiin.go.jp/itdb_kenpou.nsf/html/kenpou/backnumber-shinsa.htm

„Kempô kaisei hituyô 57 %, Jieitai meibunka 71 %," Sankei Express, 1.5.2012, S. 2. Letzter Zugriff am 23.10.2012 unter:

http://www.iza.ne.jp/news/newsarticle/politics/politicsit/559464/

„Kaiken wo jiki shûinsen no sôten ni –– shôkyokutekina giin ha taijô wo, jimi Abe sôsai," Sankei News, 30.9.2012. Letzter Zugriff am 23.10.2012 unter:

http://sankei.jp.msn.com/politics/news/120930/stt12093019260008-n1.htm

TV Asahi, „Poll –– Yoron chôsa," 7./8.10.2012. Letzter Zugriff am 26.10.2012 unter:

http://www.tv-asahi.co.jp/hst/poll/201210/index.html

„Shintô kessei he „Inochi aru uchi saigo no hôkô" tantô chokunyû „Kyô de yameru" Ishihara ryû tsuranuku," Sankei News, 25.10.2012. Letzter Zugriff am 26.10.2012 unter:

http://sankei.jp.msn.com/life/news/121025/trd12102523030033-n1.htm

Saitô Takao, „Wasureru na! „Gorin yori sensô" to itta Ishihara môgen –– „Saitô Takao Nikyokuka / kakusa shakai no shinsô," Nikkan Gendai, 10.8.2011. Letzter Zugriff am 26.10.2012 unter:

http://www.asyura2.com/11/senkyo117/msg/725.html

Sugie Eiichi, Nihonkoku kempô to kokuren –– Nihon shôkokuron no susume. Kamogawa Shuppan, 2007.

 

Artikel 9



Peaceboat Japan

Verfassung: alle Beiträge