22. Juli 2012

Sonntag, 22. Juli

Seit gestern in Aizu-Wakamatsu, eine alte Stadt, die noch viele Gebäude aus früheren Tagen aufweist. Reisanbau und Lackwaren.
Gestern, auf der Herfahrt, 16° Celsius, heute wieder fast 30°.

Die Gemeinde Wakamatsu Sakaemachi mit Pfr. E. Kataoka und seiner Frau Terumi, hat ein Zentrum zur Strahlenmessung und Beratung für Kinder eingerichtet. Das konnte nach dem 11.3.2011 schnell geschehen, weil eine befreundete amerikanische Gruppe sofort einen größeren Betrag bereitgestellt hat. Für dieses Zentrum hat das EMS im Sommer 2011 das Instrumentarium zur Strahlenmessung geliefert. Seither gibt es zuverlässige und vertrauenswürdige Zahlen.

Kiyoko, Renate und Fernando sind abgeflogen. Nun beginnt der 2. Teil meines Japanaufenthaltes. Ich gehe nach Fukushima und Sendai. Der Schwager von Kiyoko und ihre Schwester fahren mich mit ihrem Toyota. Es geht auf die Autobahn nach Iwaki, der südlichsten Stadt der Provinz Fukushima, immer der Küste entlang. Dann weiter nach Westen, in die Berge hinein. Schon vor Koriyama sinkt die Außentemperatur auf 16° bis 18° Grad. Wir sind dann in der Gegend des Abukuma-kogen. Hier soll es auch eine interessante Höhle geben.

Eine kurze Rast gibt es noch vor Koriyama, Kaffee für mich (bitter, wie selten, trotz Zucker), Kakao für Akiko und Wasser für Kazuyoshi, den Fahrer. Bei der Ausfahrt Aizu-Wakamatsu sollen wir 5.600 Yen Autobahngebühr bezahlen, er ist aber ermäßigt durch die Nutzung einer Karte (spart die Personalgebühren bei der Betreiberfirma der Autobahn) auf 2.300 Yen.

Dann Ankunft in Aizu.
Als das Navi seine Informationen beendet, fahren wir um ein paar Ecken und stehen plötzlich vor dem Kirchlein. Kirchtüre verschlossen, davor ein großer Parkplatz, die vielen Parkplätze werden von der Kirchengemeinde vermietet. Auf einem leeren stellen wir das Auto ab. Rechts um die Kirche gehend stoßen wir auf ein weiteres Gebäude, zwei Eingänge, das frühere Baby-center (Die Eltern von Frau Kataoka waren hier viele Jahre Seelsorger und Prediger. Sie sahen die Probleme der Kleinkinder, bes. als die Mütter auch arbeiten mussten und nahmen sich der Not an. Zu Zeiten wurden über 50 Babys betreut. Dann aber, um 2009 änderte sich das, immer weniger, Kinder kamen und man wollte das Baby-Zentrum aufgeben. Als dann der 11.3.2011 passierte konnte das Haus für die Katastrophenopfer bereitgestellt werden.) Hinter diesem Haus und neben der Kirche das Pfarrhaus, wie ich später lerne. Im Zentrum (früher also Baby-home) arbeitet Frau Kataoka: Sie sagt, sie wollte aufräumen, bevor ich ankomme, aber sie habe das leider nicht ganz geschafft. Sie begrüßt uns herzlich, heißt auch die beiden Begleiter willkommen, die aber verabschieden sich auf die Suche nach eine Hotel. Sie wollen nicht mit ins Haus kommen, wollen nicht stören. Frau Kataoka benennt zwei Hotels an die sie immer ihre Gäste verweisen. Ich bekomme aber Quartier im Zentrum.

Dorthin nimmt sie mich mit. Ich stelle mein Gepäck ab, steige hinter Frau Kataoka die Treppe hoch in das Obergeschoß des Zentrums, wo eine Menge los ist. Gut, dass ich so „früh" (es ist 18 Uhr und in 1 Stunde ist es hier Nacht) ankam, so kann ich gerade noch mitbekommen, was man hier macht. 4 oder 5 Frauen sitzen am langen Tisch in der Mitte des Raumes (da hätten wohl 20 Leute Platz) mit viel Papier auf dem Tisch, Flyer, Poster, Pamphlete, Zeitungen und Bücher. Alles wird gesammelt, archiviert, auf die Homepage gestellt. Im Nebenraum arbeitet ein Arzt, entsandt vom Kirchenbezirk Osaka. Er besitzt ein Krankenhaus im Wakayama-ken, ließ dieses für ein paar Tage allein und kam (jetzt bereits das 7. Mal in diesem Jahr) nach Aizu, um Gesundheitsberatung zu machen. Jeden Monat kam er hier, im nächsten wird er in Sendai sein. Dr. YAMAZAKI Tomoyuki. Er ist bei der Arbeit: Eine Mutter mit ihrem Kind sucht Rat, was sie tun muss, wie sie sich denn verhalten soll, wenn das Kind einer größeren Menge Caesium ausgesetzt wird. Der Sohn ist gerade mal 5 Jahre alt.

Aizu-Wakamatsu ist eine Stadt von ca. 120.000 Einwohnern. Laut Regierung ist sie Caesium-frei, also nicht kontaminiert. Das hat Folgen. Hierher konnte man flüchten vor der Radioaktivität. Wer aber freiwillig hierher kam, bekommt keine Unterstützung von der Provinz-Regierung. Dem Urteil der Regierung beugen sich hier fast alle (Verantwortungsträger), auch wenn sehr viele Familien sich vor dem Caesium ängstigen, gerade im Blick auf die kleinen Kinder. Auch die Ärzte und Krankenhäuser und natürlich die Behörden. Man ist nicht erfreut darüber, dass es Menschen gibt, die die Ängste der Mütter verstehen und Beratung anbieten. Beratung eben auch durch einen Arzt. Eine Mutter hat ihren 13jährigen Sohn mitgebracht, andere Kinder sind jünger.

Im vergangenen Jahr besuchten Pfr. Dinkelaker und Lutz Drescher dieses Zentrum in Aizu, die Familie Kataoka und einige Mütter mit Kindern. Sie brachten Geigerzähler mit und übernahmen die Kosten für ein modernes Messgerät (aus Schweden), mit dem nun die Strahlenmenge gemessen werden kann. Inzwischen kamen dazu noch verschiedenen kleinere Messgeräte, teilweise wurden solche auch von den Familien gekauft. Eine neuere Entwicklung aus den USA, von der Fa. Safecast, sammelt nun auch die Daten von verschiedenen Geräten und stellt sie auf der Homepage der Fa. zur Verfügung. Offiziell misst man hier die Strahlenmenge in der Luft, vielleicht 30 cm über der Oberfläche. Aber das Caesium liegt inzwischen im Boden, wo viele Geräte nicht messen können. Die so gewonnen Zahlen sagen etwas anderes als die offiziellen Stellen behaupten. Angeblich soll Panik verhindert werden. Der Preis aber ist, dass Behörden, Regierung und Mediziner unglaubwürdig werden, die Menschen verlieren das Vertrauen zu ihnen.

In Kōriyama, kaum 80 km von Aizu-Wakamatsu entfernt in Richtung Fukushima I ist die Kontaminierung 10 mal höher als hier. Zwischen beiden Städten liegt der Berg Bandai. Die Winde am 11.3.2011 und in den Wochen bzw. Monaten danach trugen das Caesium und die anderen radioaktiven Stoffe nördlich und südlich am Berg vorbei. Der Norden von Aizu ist darum stark betroffen, anders als der Großteil der Stadt. Erst genaue Messungen haben diese Erkenntnis gebracht. Heute sammelt sich das Caesium weit im Westen, in den Flüssen von Niigata. Nur in geringen Mengen nachzuweisen im Wasser, aber es setzt sich immer mehr im Schlamm und Schlick der Flüsse ab.

Wie gerne würden die verängstigten Familien ihre Kinder aus dieser Region wegbringen – wenigstens für ein paar Tage. Ein Aufenthalt in einer anderen Umgebung, in der man nicht täglich mit einer Dosis Caesium rechnen muss, kann Mut vermitteln und den Lebenswillen stärken. Darum hat der Verein Aizu Hōsha Jōhō Center oder Zentrum für Informationen über Radioaktivität mit einer Kirchengemeinde in Niigata einen Vertrag geschlossen, um ein altes Haus in ein kleines Erholungsheim umzubauen: das Niigata-Haus. Es ist von Aizu-Wakamatsu aus in einer 1½ stündigen Autofahrt zu erreichen. 2-3 Tage, in den Ferien etwas länger, können sich betroffenen Familien erholen. Die Kosten sind gering, da man sich selbst verköstigen kann. Freilich wäre Italien, Frankreich, Deutschland noch besser für eine Erholung, aber dafür hat kaum jemand genug Geld. Eine kleine Gruppe von 10 Kindern und 2 Erwachsenen wird allerdings in der kommenden Woche für 14 Tage nach Belarus fahren, eingeladen von der dortigen Regierung. Der Kontakt kam durch eine NPO-Gruppe in Hokkaido zustande.

Das Aizu Hōsha Jōhō Center in Aizu-Wakamatsu erlebt auch andere Überraschungen: Gemüse und Obst wird ihm zugeschickt aus vielen Gegenden Japans, in denen es keine Verstrahlungen gibt - eine große Hilfe für manche Familien. Dennoch spricht man hierzulande nicht öffentlich über seine Ängste und die Beratung. Fast nur unter der Hand kann dieses Hilfsangebot bisher weitergegeben werden. Man kann mit andern, auch den besten Nachbarn oder Verwandten nicht reden, weil diese einem die Ängste nicht glauben und von den Daten der Verstrahlung, von den Fakten also nichts wissen wollen. Für sie geht das Leben wie gewohnt weiter.

Die Regierung hat ja festgestellt, dass bislang niemand an Radioaktivität verstorben sei. – So sicher ist das aber nicht. Es gibt die Tatsache des plötzlichen Todes in ein paar wenigen Fällen. Medizinische Untersuchungen von Chernobyl hätten ergeben, dass es vorkommen kann, dass Caesium im Körper einen plötzlichen Tod verursacht, plötzlich im Sinne von 2-6 Tagen. Man weiß hier von 2 Mädchen und auch 3 Männern in den 40er Jahren. Nachweisen lässt sich dieses freilich nicht. Möglich erscheint es auf Grund von Chernobyl-Untersuchungen. Nicht der schleichende Krebstod oder die Leukämie ängstigen viele, sondern die plötzlichen Tode von jungen wie älteren Menschen. „Wann trifft es mich, mein Kind?"

Täglich liest man seltsame Geschichten: Heute der Bericht, dass Arbeiter im AKW mit Metall ummantelte Geigerzähler bekamen, die die wahre Bequerel-Zahl nicht anzeigten. Damit kann der Arbeiter länger an seiner Aufgabe bleiben, seien dies Aufräumarbeiten oder Reparaturen. Natürlich geschieht das nicht durch Tepco selber, sondern von den kleinen Firmen, die von ihr beauftragt werden. Ja, in den letzten Monaten dringen auch solche Geschichten in die Öffentlichkeit. Die großen Zeitungen teilen noch immer die Einschätzungen der Regierung und Tepco's. Nur die Tokyo Shinbun, eine Zeitung in der sich viele widerständige Journalisten zusammengefunden haben, berichtet schon mal ausführlicher. So wie auch die großen Demonstrationen in Tokyo und weiteren Städten kaum Erwähnung finden. Am 16.7., einem staatlichen Feiertag, rief der Literaturnobelpreisträger OE Kenzaburo nach Tokyo zur Demo auf. Die Polizei berichtete, es seinen ca. 70.000 gekommen, Zeitungen „recherchierten", dass es wohl 170.000 gewesen seien, die Veranstalter sprechen von weit über 200.000. Ob es nur 170.000 oder über 200.000 waren, die bei großer Hitze sich im Yoyogi-Park trafen: Sicher ist, es war die größte Demonstration seit den Protesten gegen den Vietnamkrieg. Von nun an sollen in allen größeren Städten Japans an jedem Freitag Demonstrationen stattfinden. Am gestrigen Tag (20.7.) fanden solche schon statt in Sendai und in Mito. Immerhin kamen dazu etwa 200 Leute!

Von den Gerichtsprozessen, die in Aizu-Wakamatsu laufen, werde ich später berichten. Dokumente dazu finden sich bereits auf der Homepage der DOAM.

Am Sonntag, 22.7., nehme ich am Gottesdienst in Aizu-Wakamatsu teil.