1970: Stationen einer Reise

 

u_geschichte1970



Aus der Geschichte (1970)
1984 - 1952 - 1968 - 1972/73 - 1992

Im Jahre 1968 trafen sich Vertreter der Vereinigten Kirche Christi in Japan (Kyodan) und Vertreter der Ostasienmission, um Fragen künftiger Ausrichtung von Mission zu beraten. Vorträge und Ergebnisse sind in dem kleinen Band "Gemeinsam Forschen. Planen. Handeln" veröffentlicht worden (1970).

Pfarrer i. R. Dietmar Rosenkranz, langjähriger stellvertretender Vorsitzender der DOAM. machte 1970 eine Reise nach Japan und Korea. Er berichtete in einer kleinen 52seitigen Broschüre seine Eindrücke und läßt uns teilhaben an den damals fälligen Entscheidungen.



Buddhistische Tempel und shintoistische Schreine in Kyoto und Tokyo, dazwischen christliche Gemeinden. Ein Besuch in einer weltweit agierenden Firma und Begegnungen mit der Studentenbewegung damals.

Weltausstellung in Osaka und nahe dabei das Kamagasaki-Viertel der Diskriminierung von Koreanern, mit Gangstern und Prostituierten.

Die Christliche Akademie in Kyoto, das Zentrum zum Studium jap. Religionen, Sozialarbeit - und Tempel, Tempel ...

Sendai-Shi im Nordosten Japans und wie ein junger Missionar seine Arbeit anfängt.

In Seoul zeichnet sich die kommende Diktatur aus Angst vor Nordkorea ab.

Begegnungen mit Christen und Kirchen, Gespräche über eine neue theologische Zusammenarbeit in Südkorea. Als pdf-Datei zu lesen oder herunterzuladen.

 

Station Osaka (1970)

Stadt der sozialen Probleme

Wir tanzen auch hier wieder aus der Reihe. Wir steigen in die verkehrte Richtung ein, nicht nach Norden, sondern nach Süden; nicht Richtung EXPO-Stadt, sondern Richtung Hafen. Wir haben ja die Einladung von Fräulein Strohm in der Tasche. "Ich arbeite mitten in dem berüchtigten Stadtviertel Osakas, das man allgemein als ,Gangsterviertel' bezeichnet. Bitte, besuchen Sie mich doch!" Unser Silberwagen ist nur halb voll, und er wird von Station zu Station leerer. Als wir endlich aussteigen, ist aller Glanz und alle helle Freundlichkeit dahin. Nun sind wir also in dem "berüchtigten" Stadtviertel, unweit des riesigen Hafenbezirkes. Ein paar schäbig gekleidete Mannergestalren drücken sich in den Ecken der Station herum. überbleibsel aus dem nach Tausenden zählenden Heer der Arbeitslosen, das sich hier allmorgendlich versammelt in der Hoffnung, von irgendwelchen Bossen zu irgendeiner Arbeit im Hafen oder in der Industrie angeheuert zu werden. Mit einem kurzen Telefonanruf bei Fräulein Strohm verständigen wir uns, daß sie uns auf dem Weg durch die schier endlose, überdachte Ladenstraße entgegenkommen wird. "Machen Sie sich nur nichts aus den Anpöbelungen, gehen Sie immer zügig geradeaus!"

Es dauert nicht lange, da haben wir uns getroffen

und setzen unseren Weg unter der kundigen Führung der resoluten Missionarin aus Deutschland fort. Während sie nun die allzu zudringlichen Gestalten uns vom Leib hält -oft mit einem kurzen Zuruf in ihrem glänzenden japanisch, oft aber auch mit einer schnellen Handbewegung -, erzählt sie uns: "Hier, das ist der Bezirk, in dem die ,Gangster' wohnen, die Zuhälter, die Bandenchefs -mit ihren Familien und ihren Gehilfen etwa 20 000 Menschen. Und hier, das ist der durch eine hohe Mauer hermetisch abgeschlossene Bezirk der Prostitution; freilich, infolge des offiziellen Verbots der Prostitution durch die Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg wurde auch hier diese Mauer an einigen Stellen durchbrochen; aber auch jetzt noch ist ein Mädchen, das von den ,Gangstern' hier herein geschleust wird, praktisch gefangen; etwa 5000 Menschen .leben' hier. Und hier, das ist das MarinerViertel; etwa 20000 Arbeitslose, Arbeitsscheue, aus irgendwelchen Gründen von ihren Familien Davongelaufene, Untergetauchte hausen hier in den verwahrlosten Elendsquartieren oder einfach auf der Straße; von hier pilgern sie zu den Sammelstellen, an denen man die Arbeitswilligen unter ihnen in die Industrie oder den Hafen vermittelt; wovon die Zurückgebliebenen eigentlich leben, das weiß ich auch nicht."

Wir fragen, bedrückt durch das unbeschreibliche Elend, das wir gesehen haben: "Und was tut denn die Stadtverwaltung> zur Behebung dieser unmenschlichen Zustände? Und wo bleibt die Polizei?" "Die Polizei traut sich hier kaum herein. Manchmal kreist ein Polizei-Hubschrauber über dem Viertel und ruft durch den Lautsprecher einen Namen aus: der und der solle heimkommen, seine Familie sei in Not! Und die Stadtverwaltung ist schier machtlos. Es gibt aber Ansätze zur Behebung dieser katastrophalen Zustände. Hier, das ist der Bezirk der Wohlfahrtsempfänger; etwa 7000 Menschen leben in ihm in einfachsten Unterkünften."

"Und was tun Sie hier?" "Ich habe in diesem unheimlichen, ausweglosen Viertel einen Kindergarten angefangen, unterstützt von der Stadtverwaltung und im Kontakt mit der Lutherischen Kirche."



Missionsarbeit auf aussichtslosem Posten?

Bald sitzen wir bei einer Tasse Tee in dem kleinen Raum, in dem ein knappes Dutzend quicklebendiger Buben und Mädchen durcheinanderpurzelt; zwei japanische Helferinnen versuchen, die kleine Schar zu bändigen. Und Fräulein Strohm erzählt uns von der Mühe, die es ihr macht, die Leute "draußen", auch die Christen, zur Unterstützung und Mitarbeit zu gewinnen; sie erzählt von der Freude, die es ihr bereitet, wenn sie wieder einmal eines der Kinder herausholen kann aus der giftigen Atmosphäre seiner Umwelt; und sie erzählt von dem Auftrag, den sie darin sieht, gerade hier ein Zeichen christlicher Nächstenliebe zu setzen. Ob sich das lohnt, die paar Kinder? Ich muß an das Gleichni s Jesu denken, in dem der Hirte die neunundneunzig Schafe verl äßt, um das eine verlorene Schaf zu suchen. Ganz gewiß: Die christliche Mission und vollends die Entwicklungshilfe muß pla nen, genau planen und auch rechnen; sie muß ihre Projekte prüfen und ihre Mittel sinnvoll einsetzen. Aber es gibt Situationen, die einen außerordentlichen Einsatz verlangen. Und daß es auch noch Menschen gibt, die zu einem solch außerordentlichen Dienst im Namen Jesu bereit sind, das haben wir im ,Gangsterviertel' in Osaka erfahren. Wer wollte da noch von Missionsarbeit auf aussichtslosem Posten reden?