2020: Memorandum warnt vor Diskriminierung alter Menschen

Evangelische Landeskirche in Baden
PM vom 02.04.2020

Memorandum warnt vor Diskriminierung alter Menschen

Karlsruhe/Heidelberg. Vor einer möglichen Diskriminierung alter und besonders schutzbedürftiger Menschen warnen der badische Landesbischof Jochen Cornelius-Bundschuh und Prof. Andreas Kruse, Direktor des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg, in einem gemeinsamen Memorandum. Angesichts der öffentlichen Diskussion um einen Ausstieg aus den bisherigen Kontaktbeschränkungen im Zuge der Corona-Pandemie sprechen sie sich dagegen aus, ältere Menschen verallgemeinernd zur Risikogruppe zu erklären, die isoliert werden müsse.

PM hier


Wortlaut des Memorandums

Der Direktor des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg, Prof. Dr. Dr. Andreas Kruse, und der Landesbischof der Evangelischen Kirche in Baden, Prof. Dr. Jochen Cornelius-Bundschuh, beobachten die derzeitige Debatte um ein Ende der Kontaktbeschränkungen in der Corona-Pandemie mit Sorge. Sie wehren sich in einem gemeinsamen Memorandum dagegen, dass ältere Menschen verallgemeinernd zur Risikogruppe erklärt werden, die isoliert werden muss.

Die öffentliche Diskussion über eine mögliche „Exit-Strategie“ aus den bisherigen Kontaktbeschränkungen nimmt immer mehr an Fahrt auf. Dabei werden Personengruppen definiert, für die die Einschränkungen fortbestehen sollen, und von Personengruppen abgegrenzt, für die diese Regelungen nicht mehr gelten sollen. Wir betrachten mit großer Sorge, wie in diesem Zusammenhang über „die Gruppe der alten Menschen“ gesprochen wird. Für diese „Gruppe“ und weitere besonders schutzbedürftige Menschen sollen weiterhin restriktive Schutzbestimmungen gelten, während sich jüngere und gesunde Menschen dann wieder wie gewohnt im öffentlichen Raum bewegen können.

Hier sei festgestellt:

Es darf nicht sein, dass die „Gruppe alter Menschen“ verallgemeinernd zur Risikogruppe erklärt wird. Die Risiken einer Infektion sind im Alter zwar deutlich höher, sie sind aber bei allen Menschen erheblich. Es muss vielmehr in jedem einzelnen Falle ein potenzielles Risikoprofil bestimmt werden.

1. In jenen Fällen, in denen ein Risikoprofil vorliegt, muss die betreffende Person ausführlich und sensibel über die Notwendigkeit einer stärkeren Isolierung aufgeklärt werden.

2. Wenn eine stärkere Isolierung in Betracht gezogen wird, besteht eine erhebliche Gefahr, dass sich mittelfristig psychische Störungen einstellen, die ihrerseits Einfluss auf die Gesundheit und auf das emotionale und seelische Wohlbefinden des Menschen nehmen. Dies heißt: Wenn eine Quarantäne unausweichlich ist, dann muss diese so beschaffen sein, dass die Lebensqualität der betreffenden Person möglichst weit erhalten bleibt, auch wenn dies mit Kosten für die Allgemeinheit verbunden ist: Denn es bedarf einer ausreichenden Anzahl von Betreuerinnen und Betreuern, die entsprechend geschützt wind und die betreffenden Menschen in ihrer Alltagsgestaltung unterstützen. Zudem müssen die nächsten Angehörigen die Möglichkeit erhalten, regelmäßig zu Besuch zu kommen – und zwar nach erfolgter Testung. Wir werden auch aus dieser Sicht nicht an einer deutlichen Erhöhung der Testangebote vorbeikommen.

3. Keinesfalls darf so getan werden, als könnte man bei alten Menschen „einfach“ eine Isolierung fortsetzen, weil sich angeblich keine andere Lösung anbietet. Natürlich ist es richtig, dass der Gesundheitsschutz Priorität besitzt, der eigene wie auch jener der Mitmenschen. Aber es ist von großer Bedeutung, dass die Lebensqualität des einzelnen Menschen berücksichtigt und alles dafür getan wird, dass diese Lebensqualität möglichst weit erhalten bleibt. Dazu gehören im hohen Alter vor allem Maßnahmen der Aktivierung sowie der sozialen Teilhabe, aber auch der Sorge für die Seele. Diese Maßnahmen können nicht allein von den Pflegekräften erbracht werden. Vielmehr sind diese auf umfassende personelle Unterstützung angewiesen. Diese muss finanziert werden – zum Beispiel aus Mitteln der Pflegeversicherung, die einen Rettungsschirm aufspannen sollte, um die ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen wirksam unterstützen zu können.

4. In dieser Krise erleben wir den Stellenwert des Gesundheits- und Pflegesystems neu. Allein der tägliche Applaus genügt für Pflegekräfte in Kliniken und Heimen nicht: spätestens jetzt wird klar, mit welchen körperlichen, vor allem psychischen und kommunikativen Leistungen Pflege verbunden ist. Es ist dringend notwendig, dass sich diese Leistungen auch in angemessener Bezahlung widerspiegeln.

5. Schließlich warnen wir davor, dass sich eine Diskriminierung „der alten Menschen“ und anderer besonders schutzbedürftiger Menschen in unser Denken und Entscheiden einschleicht. Dann stehen auf einmal auf der einen Seite „die Alten“ und auf der anderen Seite „die Jungen“. Mit den einen würde „Produktivität“, mit den anderen das Stichwort „Kosten“ verbunden.

Jedes Leben ist ein einzigartiges, unvergleichbares, von Gott geschenktes Leben, das unser gemeinsames Leben bereichert. Jeder Mensch, gleich welchen Alters, ist in seinen Stärken und Schwächen, in seinem Verständnis von Lebensqualität zu verstehen und anzusprechen. Wir wehren uns gegen Verallgemeinerungen, durch die dieses grundlegende Verständnis der Person verloren geht. Gerade in Krisenzeiten muss sich unser Bild vom Menschen und seiner Würde im Umgang mit denen bewähren, die in besonderer Weise auf Schutz und Unterstützung angewiesen sind; nur dadurch bleiben wir eine humane und solidarische Gesellschaft.









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