2016: Verdammt zum Atomstrom

Fukushima: 2011-03-11  -   2016-03-11
Süddeutsche Zeitung, 15.03.2016

Verdammt zum Atomstrom

Christoph Neidhart

Würde Japan bald aus der Kernenergie aussteigen, wie es die Mehrheit seiner Bevölkerung wünscht, gingen seine regionalen Stromfirmen pleite. Allen voran Tepco. Premier Shinzo Abe unternimmt deshalb alles, um möglichst bald möglichst viele der 43 verbliebenen Reaktoren wieder anzufahren. Die Einkünfte aus dem Atomstrom sollen die Bilanzen der Stromfirmen sanieren. Abes Regierung versichert, Japans neue Sicherheitsauflagen seien die strengsten der Welt. Damit will sie die Zustimmung der Japaner zur Kernkraft zurückgewinnen. Oder wenigstens - wie vor Fukushima - ihre Gleichgültigkeit. Dem widerspricht sogar die Internationale Atombehörde IAEA. Sie sagt, Japans Vorschriften genügten ihren Normen noch immer nicht. Überdies hält sich die neue Atomaufsicht teilweise nicht an die eigenen Regeln. Masakazu Toyoda, der Chef des parastaatlichen "Instituts für Energiewirtschaft", meint, das Wichtigste für eine bessere Akzeptanz der Kernkraft sei es, dass "die Evakuierten von Fukushima möglichst bald zurückkehren". Daher soll das Hinterland der Kraftwerksruine entgiftet werden. Hunderttausende Kubikmeter des verseuchten Bodens werden abgetragen, für die Landwirtschaft lässt sich der nicht mehr nutzen. Bisher haben die Japaner über Steuern und höhere Strompreise 3,46 Billionen Yen, 27,4 Milliarden Euro bezahlt. Jeder einzelne Japaner 220 Euro.

Und das ist erst der Anfang. Seit vergangenem Sommer hat die Atomaufsicht bewilligt, dass vier Reaktoren angefahren werden: Sendai 1 und 2 auf der Insel Kyushu und Takahama 3 und 4 in der Präfektur Fukui an der See von Japan. Sendai 1 und 2 hängen am Netz. Doch als Kepco, die Stromfirma, die Osaka und Kyoto versorgt, im Februar vor laufenden TV-Kameras Reaktor 4 in Takahama einschaltete, ging ein Alarm los. Radioaktives Wasser lief aus. Der Startvorgang musste gestoppt werden. Vorige Woche dann der nächste Rückschlag: Ein Bezirksgericht in Otsu verbot Kepco den Betrieb von Takahama, es habe Zweifel an der Tsunami-Sicherheit und auch an den Evakuierungsplänen.

Japan hat zuletzt zwei Jahre ganz ohne Atomenergie gelebt. Und keinen Strom sparen müssen. Für die Klimakonferenz in Paris hat es seine CO₂-Ziele so weit reduziert, dass diese hinter das Kyoto-Protokoll zurückfallen. Wozu also die Eile, mit der Abe die Rückkehr zur Kernenergie erzwingen will?

Im April erfolgt der nächste Schritt zur Deregulierung des Strommarkts. Bisher müssen Privathaushalte und kleine Unternehmen ihren Strom vom lokalen Monopolisten beziehen. In Tokio ist das Tepco. Japan ist in zehn Regionen unterteilt, in denen bisher ein Monopolist den Strom produziert, transportiert und an Kunden verkauft. Nun wird der Markt geöffnet. 150 Firmen, unter ihnen Detailhändler, Eisenbahn- und Telefongesellschaften bieten derzeit Stromverträge an. Einige von ihnen wollen dem Kunden aufschlüsseln, ob Atomstrom dabei ist.

In erster Linie jedoch erwartet man einen Preiskampf. Die Monopolisten werden Kunden verlieren. Um diesen Verlust zu kompensieren, wollen sie künftig auch Strom in den übrigen Regionen verkaufen. Tepco will sogar ins Ausland. Damit sie in diesem Preiskampf bestehen, brauchen die bisherigen Monopolisten, wie sie glauben, den Atomstrom. Ihn können sie, im Vergleich zum Strom aus fossilen Brennstoffen, relativ billig herstellen. Die hohen Investitionen, die Kraftwerksanlagen, haben sie bereits gemacht. Können sie ihre AKWs nie mehr nutzen, müssen sie diese abschreiben und für ihre Demontage hohe Summen zurückstellen. Das sprengt ihr Budget - erst recht, wenn sie sich nun gegen Konkurrenz durchsetzen sollen.

Es geht nicht primär um die Versorgung der Bevölkerung, sondern um die Unternehmen

Abes Regierung geht es nicht primär darum, die Versorgung sicherzustellen, wie sie sagt, sondern die bisherigen Strommonopolisten zu retten. Zumal deren Wertpapiere in Japan zu den am weitesten verbreiteten gehören.

Der zweite Schritt der Deregulierung ist für das Jahr 2020 geplant. Dann soll das Netz von den Stromfirmen abgekoppelt werden. Ein Gesetz des früheren Premiers Naoto Kan verpflichtet die Firmen, Besitzern von Sonnenkollektoren und Windanlagen Strom abzukaufen. Das Gesetz beinhaltet allerdings eine Ausnahme: Aus "technischen Gründen" können Konzerne Einspeiseverträge verweigern. Kyushu Electric hat das mehrmals getan. Kritiker behaupten, um Netzkapazität für seine AKWs frei zu halten. Solche Tricks werden nicht mehr möglich sein, sollte Japan das Netz tatsächlich und nicht nur formell von seinen großen Stromfirmen abkoppeln. Masakazu Toyoda, der sein Institut für Energiewirtschaft als unabhängig bezeichnet, aber ein pensionierter Beamter des für die Atomwirtschaft zuständigen Ministeriums ist, gibt sich skeptisch. Die Deregulierung in den USA und Europa zeige "keinen positiven Effekt wie etwa billigere Preise". Gleichzeitig habe man dort Schwierigkeiten gehabt, den "adäquaten Energie-Mix" zu finden. Erneuerbare Energien hält der Ex-Beamte für "unzuverlässig". Abes Regierung hat 20 bis 30 Prozent Atomstrom zum "adäquaten Energie-Mix" erklärt; dafür will sie möglichst rasch vollendete Tatsachen schaffen. Derweil hat sie für Solar- und Windstrom meist nur Lippenbekenntnisse übrig.

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Christoph Neidhart
Christoph Neidhart ist der Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Tokio, wo er seit neun Jahren lebt. Zuvor war er vier Jahre "Visiting Scholar" am Russland-Institut der Harvard University und fast acht Jahre Korrespondent in Moskau. Neidhart hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt "Museum des Lichts, Petersburger Lieben" und "Die Nudel, eine Kulturgeschichte mit Biss".