2016: Volle Atomkraft voraus

Fukushima: 2011-03-11  -   2016-03-11
Süddeutsche Zeitung, 11.03.2016

Volle Atomkraft voraus

von Christoph Neidhart

Die große Straße hinter der Kraftwerksruine Fukushima ist wieder offen. Doch an jeder Kreuzung stehen Sperren, Polizisten mit Atemschutz prüfen Sonderbewilligungen. Die Parkplätze im Städtchen Namie sind verbarrikadiert, die Läden verrammelt. Vor einem verlassenen, vom Erdbeben beschädigten Wohnhaus graben Arbeiter mit Helmen und Schutzmasken den Vorgarten um. Sie tragen die oberste Erdschicht ab, um das Grundstück zu dekontaminieren. Es ist eine Art Krieg, der hier geführt wird, zehn Kilometer nördlich des Kraftwerks - ein Krieg gegen die Radioaktivität. Tokio klassifiziert den Ortskern als "Zone, die für die Aufhebung der Evakuierung vorbereitet wird". In einem Jahr soll das Leben zurückkehren. Als ob man das verordnen könnte.

Der Postbote leert leere Briefkästen

Ein großer Teil des Gemeindegebiets wird aber auf Jahre unbewohnbar bleiben. Auf früheren Reisfeldern liegen Millionen schwarze 1000-Liter-Plastiktüten, gefüllt mit verstrahlter Erde und bereit zum Abtransport. Doch ein Endlager hat man noch nicht gefunden. Mehr als 93 000 Flüchtlinge aus der 213 Quadratkilometer großen Sperrzone leben noch in Notunterkünften. Von jenen, die aus Namie fliehen mussten, will nur jeder sechste zurück. Dennoch tut die Regierung von Premier Shinzo Abe alles, um die Umgebung von Fukushima 1 so weit zu dekontaminieren, dass sie die Evakuierungsbefehle aufheben kann. Dann muss sie die Flüchtlinge auch nicht mehr entschädigen.

Vor allem aber will sie zeigen, dass sie selbst eine Atomkatastrophe dieses Ausmaßes bewältigen kann. Sie will die AKWs wieder gesellschaftsfähig machen, um ihre Betreiber vor der Pleite zu retten. Zudem will Abe Atomtechnologie exportieren. Japans Öffentlichkeit dagegen lehnt die Kernkraft mehrheitlich ab. Inzwischen auch zwei Drittel der Lokalregierungen und sogar die sonst eher regierungsfreundlichen Richter. Am Mittwoch stoppte ein Bezirksgericht in Westjapan die Inbetriebnahme des AKW Takahama. Und überall in Japan, selbst in der Sperrzone, werden Solaranlagen gebaut.

An der Ruine von Fukushima 1 arbeiten täglich 7000 Menschen. Die Bergung der drei geschmolzenen Reaktorkerne soll nächstes Jahr beginnen, allerdings hat man dafür noch kein Konzept. In Tanks haben sich 700 000 Tonnen verstrahltes Grundwasser angesammelt. Niemand spricht mehr von 40 Jahren, in denen Fukushima bewältigt werde, man schätzt nun 70 Jahre. Die Katastrophe dauert an und koexistiert mit einer regierungsamtlichen Fiktion der Rückkehr zur Normalität. Die Gemeinde Naraha, südlich vom Kraftwerk, ist die einzige in der Sperrzone, die freigegeben wurde. Doch von 8000 Einwohnern sind nur 440 zurückgekehrt. Vor allem alte Leute. Die Läden bleiben geschlossen, viele Häuser sind noch beschädigt. Ein Postboote leert leere Briefkästen, am Bahnhof Tatsuda kommen täglich acht Züge an - fast ohne Passagiere. Über dem Fahrkartenschalter hängt eine elektronische Anzeige: 0.15 Mikrosievert pro Stunde. Sollen die Menschen hier mit der Strahlung leben wie anderswo mit der Luftverschmutzung? An der Nord-Süd-Achse durch die Sperrzone betrug die Strahlung am Montag 4.4 Mikrosievert pro Stunde. Das Straßenamt veröffentlicht Tabellen, die den Automobilisten vorrechnen, wie viel Strahlung sie pro Fahrt durch die Sperrzone abbekommen.

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Christoph Neidhart
Christoph Neidhart ist der Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Tokio, wo er seit neun Jahren lebt. Zuvor war er vier Jahre "Visiting Scholar" am Russland-Institut der Harvard University und fast acht Jahre Korrespondent in Moskau. Neidhart hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt "Museum des Lichts, Petersburger Lieben" und "Die Nudel, eine Kulturgeschichte mit Biss".