Forschungsprojekt: Religionsunterricht an öffentlichen Schulen in Japan

Forschungsprojekt des Tomisaka Christian Center TCC, Tokyo
Religionsunterricht an öffentlichen Schulen in Japan

Projektleitung: Mira Sonntag


Pause auf dem Schulhof

Seit vielen Jahren wird in Politik und Gesellschaft über Schule und Moral heiß diskutiert. Von den Problemen, die hier angesprochen werden, bleibt keine Schule, auch keine christliche, verschont. Viele Familien werden auseinander gerissen. Unseres Wissens gibt es von christlicher Seite keine fundierte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Fragen. Um so mehr freuen wir uns, dass das Tomisaka Christian Center bereit war, dafür eine Forschungsgruppe einzurichten - mit Frau Sonntag als Leiterin. Wir sind gespannt, wie sich die breit angelegte, interdisziplinäre Arbeit entwickelt und welche Zwischenergebnisse zu verzeichnen sein werden. Wir werden darüber berichten.
Die hier vorgestellte Projektbeschreibung kann als pdf-Datei heruntergeladen werden.


Forschungsprojekt des Tomisaka Christian Center TCC, Tokyo
Religionsunterricht an öffentlichen Schulen in Japan
Projektbeschreibung Teil 1:

Forschungsvorhaben in Kurzfassung

Angesichts zu erwartender Änderungen an der Japanischen Verfassung und am Japanischen Grundgesetz zur Erziehung soll die Forschungsgruppe Vertreter verschiedener Disziplinen, Religionen und bildungspolitischer Einrichtungen in den Dialog bringen. Ziel dieses Runden Tisches ist die Erarbeitung konstruktiver Vorschläge für einen verantwortungsvoll konzipierten Religionsunterricht an öffentlichen Schulen auf der Grundlage einer gründlichen Analyse der momentanen Rahmenbedingungen und ihrer Reflexion im Lichte der Anliegen der 3. Bildungsreform.


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Religionsunterricht an öffentlichen Schulen in Japan
Projektbeschreibung Teil 2:

Die historische Entwicklung

Seit der Entstehung des modernen japanischen Bildungssystems (d.h. 1868) gab es immer wieder Diskussionen um eine angemessene „Werteerziehung“ der Schüle-rInnen. Während in den neu gegründeten christlichen Schulen „Werteerziehung“ von Anfang an ein wichtiger Bestandteil war, standen in staatlichen Schulen Naturwissenschaften und Fremdsprachen im Mittelpunkt. Es ging zunächst darum, den Wissens- und Technologiestandard möglichst rasch an das westliche Niveau anzugleichen, um dem Druck der westlichen Zivilisationsexpansion standzuhalten.


Händefalten vor dem Essen in der Schule

Erst 1890 setzte die japanische Regierung (der Tennô) mit dem Kaiserlichen Edikt zur Erziehung (kyôiku chokugo) eine ethische Richtlinie für das gesamte Bildungssystem in Kraft, die durch den Rückgriff auf „japanische“ Traditionen vor übermäßiger Verwestlichung schützen sollte. Von 1890 bis 1946 wurden damit Kaisertreue und Pat-riotismus (chûkun aikoku) zur Grundlage der Erziehung und Volksmoral (kokumin dôtoku). Nachdem die Verfassung von 1889 erstmals Religionsfreiheit gewährte, wurde nur wenige Jahre darauf der Religionsunterricht an allgemeinen Schulen verboten (Monbushô Anordnung Nr. 12, 1899). Auch private Schulen mussten, so sie ihre Zulassung behalten wollten, auf die Vermittlung religiöser Inhalte verzichten oder den Pflichtschulbereich verlassen (z.B. durch Umstrukturierung/Neugründung als Fachschulen oder Frauenuniversitäten). Dies traf insbesondere die christlichen Schulen hart.

Das dadurch entstehende Problem, dass dennoch nach wie vor shintôistisches bzw. konfuzianistisches Denken an Schulen gelehrt wurde, löste man, indem dem Shintô in zunehmendem Maße der religiöse Charakter abgesprochen wurde (schließlich auch juristisch besiegelt mit dem Gesetz für religiöse Körperschaften von 1939). In den 1920er Jahren kam das Schlagwort der „parallelen Entwicklung von Intellekt und Moral“ (chitoku no heishin) auf, wobei hier betont werden muss, dass Moral immer als öffentliche Moral (kôtoku) verstanden wurde. Wiederholt wurde dem Volk von staatlicher Seite „geistige Aufmunterung“ (seishin sakkô) verordnet. Diese moralische Aufmunterung war vor allem auch gegen den damals starken Einfluß des Kommunismus gerichtet. In Reaktion auf das geistige Klima der Taishô- und frühen Shôwa-Zeit griff die Regierung 1932 bzw. 1935 schließlich wieder auf die Religion als Mittel der Manipulation zurück und ordnete die „Förderung religiöser Gesinnung“ (shûkyôteki jôsô no kan’yô) im Schulalltag an. Allerdings wurde diese „religiöse Gesinnung“ als eine Art „Grundstimmung“ (sentiment) verstanden, die nicht nur unabhängig von historischen Religionen sein, sondern diesen vielmehr universal zu Grunde liegen sollte. Theoretischen Rückenhalt fand diese Ansicht in westlichen Werken von R. Otto („Das Heilige“), W. McDougall („An introduction to social psychology“) u.a. Der zuvor dem Status der historischen Religion enthobene Shintô wurde nun als Religiosität per se zum Gegenstand der „Erziehung (zu) religiöser Gesinnung“ (shûkyôteki jôsô kyôiku).

Als Teil der Tennô-Ideologie unterstützte diese Wertebildungspolitik die Gleichschal-tung des japanischen Volkes in den 1930er und 40er Jahren. Darüber hinaus führte sie zu einer staatspragmatischen Definition von „Religion“ (shûkyô) als einer Art „Dogmatismus“, die den Shintô ausschließt und ihn im Kontrast zu dieser mit dem Begriff „Weg“ (dô) als (östliche) religiöse „Praxis“ postuliert. Obwohl der ideologische Rahmen, dem diese Definition dienen musste, vor 60 Jahren aufgebrochen und seitdem immer wieder der Kritik unterzogen wurde, bestimmt sie selbst weiterhin die religiöse Selbstbehauptung vieler JapanerInnen. Shintô gilt nicht bzw. nicht als „vollwertige“ Religion, Schrein- und auch Tempelbesuche werden nicht als religiöse Handlungen verstanden. Nachträglich untermauert durch (inzwischen bereits über-holte) Säkularisierungstheorien hält sich darüber hinaus auch weiterhin die Ansicht, dass solchermaßen als „religiös“ Definiertes (shûkyô) in die Privatsphäre gehöre und dabei aber der „öffentlichen Moral“ untergeordnet bleiben müsse.


Klassenbesuch im Schrein

Nach Ende des 2. Weltkrieges bestand eine der ersten Amtshandlungen der amerikanischen Besatzer in der Annullierung des Kaiserlichen Edikts zur Erziehung. Unter amerikanischem Einfluß wurde nach der neuen Verfassung ein Grundgesetz zur Erziehung (kyôiku kihon hô) ausgearbeitet, dessen Präambel Erziehung zum Multi-plikator demokratischen Bewusstseins deklarierte, mit dem das japanische Volk „in die neue Verfassung“ zu bringen sei. Es bestand durchaus ein Interesse an „Werte-erziehung“, die über „Demokratisierung“ hinaus ging, und die Achtung vor der/n Religion/en wurde in Paragraph 9 des Grundgesetzes zur Erziehung aufgenommen. Der Vorschlag des damaligen Bildungsministers Tanaka Kôtarô für die Einführung von Religionsunterricht unter der Bezeichnung „Gesinnungserziehung“ (jôsô kyôiku) zum Zwecke der „Förderung religiöser Gesinnung“ (shûkyôteki jôsô no kan’yô) konnte sich aber aufgrund der früheren Nutzung des Begriffs nicht durchsetzen. Seit 1946 gilt damit jeglicher Religionsunterricht mit normativem Anspruch (jôsô kyôiku, shûha kyôiku) für öffentliche Schulen als nicht zulässig und bleibt konfessionell gebundenen privaten Schulen vorbehalten.

In den 1960er und 70er Jahren bestimmten die ökonomischen Ziele des Staates das Ethos an den Schulen. Mit zunehmendem wirtschaftlichen Erfolg wurden aber auch Probleme im Bildungssystem wie Schulverweigerung, Mobbing und Gewalttätigkeit immer offensichtlicher. Die „3. Bildungsreform“ tatsächlich handelt es sich um eine Vielzahl von Reformen, die zuerst vom Kabinett Nakasone auf die Tagesordnung gebracht worden waren zielt seit den 1980er Jahren auf eine Lösung dieser Probleme. Und je mehr sich der allgemeine Eindruck der Unlösbarkeit der Probleme des Bildungssystems verstärkt, desto lauter werden die Rufe nach Religionsunterricht an öffentlichen Schulen.

 

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Religionsunterricht an öffentlichen Schulen in Japan
Projektbeschreibung Teil 3:

Die gegenwärtige Diskussion

Seit dem Aum-Giftgasanschlag von 1995 wird Religionsunterricht erneut öffentlich thematisiert, so z.B. in Debatten um „Gesinnungserziehung“ (jôsô kyôiku) und „Patriotismus“ (aikokushin). Der Schock, den die japanische Gesellschaft angesichts des destruktiven Handelns einer religiösen Organisation erlitt, war jedoch nicht der einzige Auslöser für diese Entwicklung. Bei genauer Betrachtung entpuppt sich die neuere Diskussion um allgemeinen Religionsunterricht als die letzte Etappe des bereits 30 Jahre währenden japanischen Kampfes gegen die sich immer weiter verschärfende Situation an Schulen. Als „letztes Mittel“ wird nun wie in den 1930er Jahren der Religionsunterricht „ausgegraben“.

Der Erziehungssoziologe Katô Jun resümiert, dass vom japanischen Erziehungsdis-kurs als Ganzem „die Rolle einer religiösen Erlösung erwartet wird“ und zwar insofern, als es darin nicht in erster Linie um die konkrete Lösung der verschiedenen real existierenden Probleme ginge, sondern darum, die mit diesen Problemen konfrontierten und vor ihnen kapitulierenden Menschen von ihrer psychischen „Blockie-rung“ (heisokukan) zu heilen. Dann aber kann es kaum verwundern, dass die Debatte um Religionsunterricht innerhalb des Erziehungsdiskurses zunehmend an Bedeutung gewinnt.

Die aus der Notwendigkeit der Bildungsreform entstandene Forderung nach allge-meinem Religionsunterricht trifft nun auf Kritik und Hindernisse. Nicht nur Christen sind angesichts des Missbrauchs von „Gesinnungserziehung“ (jôsô kyôiku) vor und während des 2. Weltkrieges über den Vorschlag ihrer Wiedereinführung in öffentlichen Schulen beunruhigt.

Die Gegner eines Religionsunterrichts in Form von „Gesinnungserziehung“ (jôsô ky-ôiku) verweisen auf seine Unvereinbarkeit mit den Vorgaben der Verfassung und des Grundgesetzes zur Erziehung. Im Vordergrund dieser juristischen Argumentation stehen gezwungenermaßen Definitionsfragen. Häufig spricht man hier von drei zu unterscheidenden Kategorien des Religionsunterrichts, nämlich 1.) der Wissensver-mittlung über Religionen (chishiki kyôiku), 2.) der „Gesinnungserziehung“ (jôsô kyôiku) und 3.) der konfessionellen Religionskunde (shûha kyôiku). Über die korrekte Abgrenzung der Kategorien voneinander ist man jedoch uneins. Diese wird wiederum zusätzlich erschwert durch die problematische Entwicklung des neuzeitlichen Religionsbegriffs in Japan.

Während die Auseinandersetzungen auf juristischer Ebene andauern, wird im allgemeinen übersehen, dass auch an öffentlichen Schulen bereits Elemente eines Religionsunterrichts erkennbar sind. Klassenfahrten zu wichtigen Kulturdenkmälern oder die im Moralunterricht behandelte „Ehrfurcht“ (ikei no nen) vermitteln durchaus keine universal gültigen Werte, sondern meist Werte einer konkreten Religion. Im Fall der Kulturdenkmäler sind das weniger buddhistische oder shintôistische Werte, sondern vor allem die Bellahsche Zivil-Religion des Nihonjinron oder Japan-Diskurses, im Fall der „Ehrfurcht“ im japanischen Kontext ausschließlich der Shintô.

Auch die Sitzungsprotokolle des mit der Reform des Grundgesetzes zur Erziehung beauftragten Zentralen Bildungsrates lassen eine eher laienhafte Auseinandersetzung mit Religion vermuten. Der Rat lädt zwar auch „Experten“ (darunter keine Religi-onswissenschaftler oder Religionsvertreter) zur Anhörung ein, in der Diskussion um den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen dominieren jedoch Vokabeln wie „pseudo-religiöse Vereine“ und „dogmatische Gruppen“, die im neuen Gesetz wohl kaum Verwendung finden dürften. Die Notwendigkeit der Einführung des Religionsunterrichts wird ausschließlich von zwei Perspektiven aus gesehen: Einerseits soll Religionsunterricht unter dem Stichwort öffentliche Sicherheit die japanische Ge-sellschaft vor oben genannten Gruppen schützen. Mit dem Schlagwort der Globalisierung verbindet sich andererseits die Argumentation, dass Religionsunterricht notwendig sei, um religiös konnotierte Konflikte in anderen, angeblich „religiöseren“ Ländern zu verstehen. Wie viele JapanerInnen halten auch die Mitglieder des Bildungsrates das japanische Volk für „unreligiös“.

Aus religionswissenschaftlicher Perspektive handelt es sich hier ebenso um eine Fehleinschätzung wie bei der Ansicht, dass Religion ausschließlich Sache des Indi-viduums und damit der häuslichen Erziehung und nicht der Gesellschaft, d.h. der schulischen Erziehung sei. Letztere taucht wiederholt in den Protokollen auf und wird konsequenterweise zur Argumentation gegen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen herangezogen.

Insgesamt scheint die Diskussion um den Religionsunterricht in eine Sackgasse geraten zu sein. Daher bleiben die Probleme im Bildungssystem, die mithilfe des Religionsunterrichts behoben werden sollten, weiter bestehen. Bestehen bleiben auch die Motivationen, die bestimmte Gruppen ursprünglich zur Forderung nach Religionsunterricht an öffentlichen Schulen bewegten. Widerstand gegen den Nationalismus der Wortführer in der Debatte um „Patriotismus“ und „Herzenserziehung“ (kokoro no nôto) ist unerlässlich, doch die real existierenden Probleme, mit denen in dieser Debatte argumentiert wird, dürfen deshalb nicht unbeachtet bleiben.

Als extreme Minderheit in der religiösen Landschaft Japans berufen sich auch die christlichen Kirchen meist auf den individuellen Charakter von Religion/Glauben und fordern, insbesondere mit Blick auf die staatliche Instrumentalisierung von Religion in der Vergangenheit, die Beibehaltung bzw. endgültige Durchsetzung der strikten Trennung von Religion und Staat. A priori kritisch gegenüber staatlichen Strategien, verfolgen sie eine auf Privatschulen begrenzte Vision des Religionsunterrichts. Diese defensive Haltung ist nicht nur zu sehr auf die Vergangenheit fixiert, sie lässt auch die Verbesserung des Bildungssystems insgesamt außen vor.

M.E. sollten die Kirchen vielmehr in Wahrnehmung ihrer gesellschaftlichen Verantwortung den Diskurs um einen auf die Lösung bestehender Probleme im Bildungssystem gerichteten, allgemeinen Religionsunterricht mit konstruktiven Vorschlägen mitgestalten und vorantreiben. Mit Blick auf die bisherige Wirkungsgeschichte des Christentums in Japan ergibt sich diese Rolle geradezu als logische Konsequenz. Seit der Meiji-Zeit hat das Christentum seine Mission überwiegend im Bildungssektor erfüllt und auf diese Weise trotz extrem niedriger Mitgliederzahlen (unter 1% der Bevölkerung) einen verhältnismäßig starken Einfluß auf die japanische Gesellschaft ausgeübt. Christliche Bildungseinrichtungen, insbesondere Universitäten erfreuen sich allgemeiner Anerkennung. Dennoch bleiben sie als Privatschulen den Kindern von finanziell besser gestellten Familien vorbehalten.

Mitunter hört man von japanischen Christen die Unterstellung, dass der Staat, so es denn allgemeinen Religionsunterricht gäbe, darin ohnehin nur ein „falsches“ Bild vom Christentum vermitteln würde und deshalb die Aktivitäten der kircheneigenen Sonntagsschulen ausreichend seien. Diese Einschätzung ignoriert die Tatsache, dass Kinder und Jugendliche nichtsdestotrotz über den Unterricht in öffentlichen Schulen und über die Medien ein bestimmtes Bild von Religion/en gewinnen. (Statistiken zufolge meinen 66 % aller Studenten an Universitäten, „Religion sei gefährlich“. Zumeist steht hinter dem Bild der „gefährlichen Religion“ das Bild vom „ausländischen“ Monotheismus.)

Wenn man aber die Verteilung von öffentlichen und privaten Schulen auf die ver-schiedenen Ausbildungsstufen in Betracht zieht, dann wird deutlich, dass die über-wiegende Mehrheit der japanischen Kinder die für die religiöse Entwicklung wich-tigsten Phasen (Grund- und Mittelschule) in öffentlichen Einrichtungen verbringen. Es ist an der Zeit, dass die christlichen Kirchen in Japan den Horizont ihrer „Bildungsmission“ erweitern und in Kooperation mit Vertretern anderer Religionen Vorschläge für einen verantwortungsvoll konzipierten allgemeinen Religionsunterricht machen.

Als eigenständiges, japanisches Forschungsinstitut unterhält das Tomisaka Christian Center seit seiner Gründung enge Kontakte nach Deutschland und seit geraumer Zeit auch in die Schweiz und verschiedene asiatische Länder. Mit der Anbindung der Forschungsgruppe an dieses Institut und seine ebenso internationale wie interdiszi-plinäre Forschungstradition verbindet sich die Hoffnung auf neue Impulse für den z.Zt. stagnierenden Diskurs zum Thema „Religionsunterricht an öffentlichen Schulen“.

 

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Religionsunterricht an öffentlichen Schulen in Japan
Projektbeschreibung Teil 4:

Zu behandelnde Fragestellungen

Zunächst ist es wichtig, die Möglichkeiten und Grenzen der Wirksamkeit von Religionsunterricht in einer breiteren Diskussion zu hinterfragen. Offensichtlich werden viele unrealistische Erwartungen an das „Wundermittel“ Religion bzw. Religionsunterricht geknüpft. Eine konkrete Bestimmung des „therapeutischen Potentials“ von Religionsunterricht und seiner Stellung in der „säkularen Gesellschaft“ steht deshalb am Ausgangspunkt.

In einem weiteren Schritt soll es um die Analyse der momentanen Gegebenheiten für Religionsunterricht an öffentlichen Schulen in Japan gehen. Aus der Perspektive der Religionswissenschaft und anderer Disziplinen soll nach versteckten Elementen von Religionsunterricht innerhalb von Schulfächern wie „Moralkunde“, „Ethik“, „Sozial-kunde“ oder „Geschichte“ gesucht und deren Auswirkungen und Legalität bestimmt werden.

Daneben muss die Rolle der Rede vom Religionsunterricht im öffentlichen Diskurs über Probleme des Bildungssystems näher bestimmt werden. Welche Probleme wollen Befürworter durch die Einführung des allgemeinen Religionsunterrichts beheben? Vorschläge verschiedener Interessengruppen sollen dazu hinsichtlich ihrer Motivation, Zielsetzung und ihres praktischen Nutzens verglichen werden. Darauf aufbauend soll eine Beschreibung des möglichen konstruktiven Beitrags zur japanischen Bildungsreform entstehen.

Bezugnehmend auf die oben genannten Punkte gilt es dann, konkrete Vorausset-zungen für die offizielle Einführung des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen zu formulieren. Beim gegenwärtigen Forschungsstand erweisen sich folgende Punkte als unerlässlich:

  • die Neubestimmung des Begriffs „Religion“ für den japanischen Kontext,
  • die Neubestimmung des Verhältnisses von religiöser Sphäre und öffentlicher Sphäre (Relation privat/öffentlich) und
  • eine Umorientierung der Bildungspolitik.

Die im Vorangehenden postulierte Notwendigkeit des Religionsunterrichts an öffent-lichen Schulen muss geprüft werden. Auch in Japan gibt es Ansätze (z.B. Ebara) zu einer „Werteerziehung“ (kachi kyôiku) , die den Rahmen des Religionsunterrichts überschreitet. Die Rolle der religiösen Erziehung als Teil dieser Werteerziehung ist jedoch erst noch zu bestimmen. „Werteerziehung“ ist auch als „(staats)bürgerliche“, „moralische“ oder „multikulturelle“ Erziehung denkbar. Die Notwendigkeit des Religionsunterrichts als Teil dieses Gefüges ergibt sich nicht von selbst. Die Möglichkeit, dass bestehende Probleme im Bildungssystem auch ohne Religionsunterricht gelöst werden können, muss ebenfalls in Betracht gezogen werden.

Auf der Grundlage der oben genannten Untersuchungen gilt es, einen Grundriss für einen idealtypischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen vorzulegen. Dieser Entwurf sollte für die Mehrheit der japanischen Bevölkerung unabhängig ihres jeweils eigenen nicht/religiösen Bekenntnisses akzeptabel sein.

 

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Religionsunterricht an öffentlichen Schulen in Japan
Projektbeschreibung Teil 5:

Projektablauf

Die oben genannten Fragestellungen werden in mehrmals pro Jahr stattfindenden Workshops behandelt. Üblicherweise laufen Forschungsprojekte am Tomisaka Chris-tian Center über einen Zeitraum von fünf Jahren. Für die Veröffentlichung der For-schungsergebnisse sind weitere drei Jahre vorgesehen. Angesichts der Dringlichkeit des Themas und in naher Zukunft zu erwartender Änderungen an der japanischen Verfassung sowie am Grundgesetz zur Erziehung ist es jedoch ratsam, auf eine Projektdauer von ca. drei Jahren zu orientieren. Über die konkrete zeitliche Planung der Workshops wird bei der ersten Zusammenkunft entschieden. Denkbar sind bis zu 5 zweitägige Workshops pro Jahr bzw. weniger mehrtägige Workshops.

Darüber hinaus sollen Mitglieder mit gemeinsamen Panels auf relevanten Tagungen und Kongressen über die Arbeit der Forschungsgruppe berichten. Die Ergebnisse werden in mindestens einer japanischen und einer englischen Monographie veröffentlicht. Als Empfehlung an die Vereinigte Kirche Christi in Japan (Kyôdan) und den Nationalen Kirchenrat Japans (NCC) soll ein Vorschlag für eine Denkschrift zur Rolle des Religionsunterrichts ausgearbeitet werden. In ähnlicher Weise soll auch ein Appell an den Nationalen Bildungsrat (chûô kyôiku shingikai) verfasst und übermittelt werden. Durch Mitarbeit der Projektpartner soll außerdem eine Datenbank der für Japan relevanten Forschungsliteratur und Schlagwörter zum Thema Religionsunterricht erstellt und auf der Homepage des TCC öffentlich zugänglich gemacht werden.

 

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Religionsunterricht an öffentlichen Schulen in Japan
Projektbeschreibung Teil 6:

Beitrag der Projektpartner

Ca. 15 Projektpartner sind mit Blick auf ein möglichst ausgewogenes Alters- und Geschlechterverhältnis aus den relevanten Fachgebieten, kirchlichen und anderen religiösen Institutionen sowie staatlichen Vertretern der Bildungspolitik zu gewinnen. Neben der Interdisziplinarität wird die im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten größtmögliche Internationalität angestrebt. Obwohl es sich nicht um ein komparatistisch konzipiertes Projekt handelt, soll das Wissen der Partner über die Situation in anderen Ländern in die Diskussion einfließen und für den Fall Japan fruchtbar gemacht werden. (Eine Liste potentieller Partner findet sich im Anhang.)

Die in Japan ansässigen Partner verpflichten sich zu regelmäßiger Teilnahme an den Workshops der Forschungsgruppe. Die im Ausland ansässigen Partner werden einmal pro Jahr zu einem mehrtägigen Workshop eingeladen. Für die einzelnen Workshops übernehmen einzelne Partner die thematische Leitung. Diskussionen auf Grundlage der von allen Partnern zum jeweiligen Thema vorzubereitenden Thesenpapiere bilden den Kern der Workshops (Runder-Tisch-Modell). Alle Partner verpflichten sich zur Ausarbeitung mindestens eines Vortrags, der Grundlage für die Publikation/en der Forschungsgruppe sein soll.

 

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Religionsunterricht an öffentlichen Schulen in Japan
Projektbeschreibung Teil 7:

Forschungsstand

Ausgangspunkt für den oben skizzierten Projektantrag waren Erkenntnissen der Projektleiterin aus der Feldforschung in christlichen Schulen in Japan. Im Licht dieser Erkenntnisse Perspektiven für einen allgemeinen Religionsunterricht zu überdenken, war das Anliegen eines Panels auf der IAHR-Konferenz im März 2005 in Tokyo. Dabei wurde jedoch deutlich, dass es bis zu „Problemlösung“ noch ein weiter Weg ist. Am IAHR-Panel waren neben der Projektleiterin Prof. Michael Pye, Dr. Dorothea Filus, Dr. Tadaatsu Tajima und Journalist Nobuo Sugawara beteiligt, auf deren Beiträge sich der vorliegende Antrag ebenfalls stützt.

In Japan befassten sich bereits zwei andere Forschungsgruppen mit dem Thema Religionsunterricht: eine Gruppe der shintôistischen Kokugakuin-Universität unter der Leitung von Prof. Nobutaka Inoue sowie eine Gruppe der buddhistischen Tais-hô-Universität unter Leitung von Prof. Satoko Fujiwara. Die Gruppe um Inoue ar-beitete an einer empirischen Vergleichsstudie des Religionsunterrichts im universitären Bereich. Die Situation in Japan wurde dabei mit der in Südkorea verglichen. Die Gruppe um Fujiwara arbeitete an einer Datenbank und statistischen Auswertung von Lehrplänen mit Religionsbezug ebenfalls im universitären Bereich. Sie stand dabei in Kooperation mit der University of United Nation und der Oslo Coalition.

Dass sich beide Gruppen auf den universitären Bereich beschränkten, liegt einerseits am juristischen Rahmen für Religionsunterricht in Japan und andererseits an der Verteilung der Privatschulen über das gesamte Bildungssystem. (Siehe oben.) Von beiden Gruppen sollte jeweils ein/e Vertreter für die Kooperation im Forschungsprojekt des TCC gewonnen werden.

An anderen Universitäten wie z.B. der christlichen Doshisha-Universität versuchten Forscher sich durch die Einladung ausländischer Gastprofessoren, die dann über Re-ligionsunterricht in ihrem jeweiligen Land berichteten, dem Gegenstand anzunähern.

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Religionsunterricht an öffentlichen Schulen in Japan
Projektbeschreibung Teil 8:

Besonderheit des eigenen Ansatzes

Mit dem hier vorgeschlagenen Projekt wird sich erstmals eine Forschungsgruppe interdisziplinär mit den Perspektiven des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen auseinandersetzen. Dennoch werden keine direkten Ländervergleiche angestrebt. Das „Hintergrund“wissen ausländischer Forscher sowie inländischer Spezialisten für Religionsunterricht in anderen Ländern soll dazu dienen, den bisherigen japanischen Diskurs aufzubrechen und zu neuen Sichtweisen zu inspirieren.

Das vorliegende Projekt unterscheidet sich in einem weiteren Punkt von den oben genannten Projekten: Es geht hier keinesfalls nur um die Bestandsaufnahme und Analyse der gegenwärtigen Situation. Diese ist nicht Ziel, sondern Voraussetzung für das eigentliche Ziel: die Formulierung konkreter Vorschläge für einen verantwortungsvoll konzipierten Religionsunterricht an öffentlichen Schulen.

 

Mira Sonntag

Frau Mira Sonntag
geboren in Zwickau,
Doktorand an der Tokyo Universität,
Mitarbeiterin am Tomisaka Christian Center TCC, Tokyo

mit Tochter

 

Veröffentlichungen

in deutscher Sprache:

in englischer Sprache: - A Study of Aishin High School in Western Japan

 

AISHIN Gymnasium

Frau Sonntag hielt sich im Mai 2004 17 Tage lang im Aishin-Gymnasium für Feldforschungen zu ihrem Thema "Christliche Erziehung in Japan" auf. Sie führte Interviews mit Lehrern, Schülern und Eltern.

Das Aishin-Gymnasium ist übrigens sehr an Austausschülern interessiert, die bereits ein wenig Japanisch verstehen und sprechen können.

Einige Zitate aus ihrem Ergebnis:

"... the school actually represents an alternative approach in the educational landscape of Japan, first of all by working under the democratic paradigm instead of the autocratic one. It is for this reason that Aishin can bypass problems of ordinary schools. How far other Christian schools also provide democratic education would have to be analysed in further studies."

 

"... Christian education, which stands for 'internationalization', hardly represents a distinct voice within an educational landscape where everybody and the government more than everybody else cries for interna-tionalization. On the government’s political agenda, 'internationalization' serves as a fashionable form of nationalism to ensure the Japaneseness of the Japanese. ... "

"... In contrast, a Christian school, which actualizes the democratic qualities of its Christianity throughout the whole pedagogical approach, becomes a force for social change rather than for pres-ervation of the status quo. ..."

 

Hier einige Fotos aus dem Leben am AISHIN-Gymnasium.


Im Hühnerstall


Hinter dem Huhn her


Jauchekübel werden geleert


Bei der ökologischen Feldarbeit


In der Werkstatt


Neue Fenstergitter werden vorbereitet

 

Der ganze Aufsatz im Wortlaut

TCC


Tomisaka Christian Center

Bonhoeffer Symposium
21.-27.3.2006 in Tokyo

Mira Sonntag
Forschungsarbeit im TCC

Die Bücher des TCC
insgesamt 21 Bücher seit 1980

Vorstand des TCC
und Mitarbeiter

Wegweiser
und Lageplan von Tomisaka

 

Einweihung

1988 wurde das Haupthaus des TCC eingeweiht. Die Tafel am Eingang erinnert die Besucher daran.

tcc einweihung1999 1

 

Tomisaka Tayori