Buch: "Auf der Jagd nach der Sonne"

Nomos Verlag (2018)
(Leider bin ich erst jetzt auf dieses Buch aufmerksam geworden. PS)

Auf der Jagd nach der Sonne
Das journalistische Feld und die Atomkraft in Japan
Tobias Weiß

1. Auflage 2019, ISBN print: 978-3-8487-5513-4
ISBN online: 978-3-8452-9697

Abstract
This book analyses the portrayal of nuclear power in Japanese journalism and the factors that influence it. Combining a field theoretical approach to journalism with frame analysis on different levels of the communication process, the author argues that the nuclear industry in Japan used its financial power to form a 'pro-nuclear civil society' and that this frame sponsorship is the reason for the relatively positive portrayal of nuclear power in Japan until 2011.After 'Fukushima’, journalistic autonomy in this domain increased and journalism became a driving force of change in nuclear policy. At the same time, the field of journalism became polarised because its more heteronomous parts remained integrated into the 'pro- nuclear civil society7. This book offers a new perspective on thejapanese media and journalism in Japan, emphasising heterogeneity and change in contrast to previous research, which focused on press clubs as institutions of pervasive media control.

Das Buch kann als pdf heruntergeladen werden.
DOI: https://doi.org/10.5771/9783845296975

Aus dem ersten Kapitel: Einleitung
"Die Explosion
Am 12. 3. 2011 um ca. 15.30 Uhr nimmt die fest installierte Kamera eines Lokalfernsehsenders aus Fukushima einen bedeutenden Moment auf. Auf dem Video sind drei weiße quadratische Gebäude zu sehen. Daneben drei hohe Türme, die wie Strommasten aussehen. Im Hintergrund ein grauer, leicht bewölkter Himmel. Plötzlich blitzt für einen Moment eine Flamme auf, eine Rauchwolke breitet sich erst horizontal aus und schießt dann in die Höhe. In Bruchteilen einer Sekunde sind alle Gebäude in eine Wolke aus Rauch gehüllt.

Die Szene spielt sich im ersten Reaktor des Atomkraftwerks Fukushima 1 ab, in dem durch eine Flutwelle alle Energieversorgung ausgefallen ist. Seit 24 Stunden kämpfen die Techniker gegen eine voranschreitende Kernschmelze. Die Einwohner der Gebiete im Umkreis von zehn Kilometern sind zum Teil schon evakuiert. Die Redaktion des lokalen Fernsehstudios entscheidet sich nach einer kurzen Diskussion das Video auszustrahlen. Man ist sich nicht sicher, wie die Explosion zu interpretieren ist. Es gibt keinerlei Kommentar von dem Betreiber des Kraftwerks oder den Behörden, aber die Information scheint zu wichtig, um sie den Anwohnern vorzuenthalten. Die Sprecherin, die das Video kommentiert, wird angewiesen, das Wort „Explosion“ nicht zu verwenden (Satō 2012).

Der Fernsehsender Nihon TV in Tokyo ist ein Kooperationspartner des Lokalsenders in Fukushima. Das Video von der Kamera in Fukushima wird zeitgleich ins Studio in Tokyo übertragen. Es dauert jedoch über anderthalb Stunden, bis das Video landesweit ausgestrahlt wird. In dicken roten Lettern unten im Bild erscheint der Text „Nutzung eines Explosionsventils, um den Reaktordruck zu senken“. Ein Kerningenieur erklärt danach,wie das „Explosionsventil” funktionieren könnte. ...

... Als am 11.3.2011 ein Tsunami die Notstromaggregate des Kraftwerks Fukushima Daiichi an der japanischen Pazifikküste lahm legte, rechnete in Japan kaum jemand mit schwereren Problemen. Der Atomunfall erschien zunächst als kleinere Begleiterscheinung der massiven Zerstörung der japanischen Nordostküste, die zu knapp 20 000 Toten und Vermissten führte und ganze Ortschaften ausradierte. Innerhalb kurzer Zeit entwickelte sich der Atomunfall aber zu einer größeren Bedrohung als es Erdbeben und Tsunami alleine hätten sein können. Drei der sechs Reaktoren waren zum Zeitpunkt des Erdbebens in Betrieb. Zwar wurden sie planmäßig heruntergefahren, als das Erdbeben registriert wurde, aber innerhalb der nächsten Tage zeigte sich, wie schlecht die Reaktoren auf einen längeren Ausfall der Stromversorgung vorbereitet waren. Die Reaktoren stoßen auch nach der Abschaltung eine große Menge Hitze aus und müssen weiter gekühlt werden. Der Tsunami legte die Notstromaggregate zuerst bei einem Reaktor lahm. Die Hitze führte dazu, dass die Brennstäbe zu schmelzen begannen und der Druck im Inneren des Reaktors stieg. Die Beschichtung der Brennstäbe löste sich auf, produzierte dabei Wasserstoff und radioaktive Stoffe gelangten in Luft und Wasser. Es wurde versucht, den Druck über Ventile abzulassen, aber wegen Defekten und Problemen bei der Bedienung nahm dies viel Zeit in Anspruch. Der Wasserstoff, der aus der Beschichtung entstanden war, trat über defekte Leitungen und erste Löcher in der Schutzhülle der Reaktoren ins Reaktorgebäude aus und führte am Nachmittag des 12.3.2011 zu einer Wasserstoffexplosion, die das Dach des Gebäudes und das oberste Stockwerk völlig zerstörte. Danach kam es durch die Folgen der Explosion und in Folge von Problemen beim Heranschaffen von Nachschub und der Bedienung der Maschinen in den zwei anderen Reaktoren zu aufeinanderfolgenden Krisen mit demselben Ablauf. Auf den Verlust der Kühlung folgte der Anstieg von Temperatur und Reaktordruck. Es wurde versucht den Druck durch Ventilieren abzulassen, was zu erhöhten Austritten von Radioaktivität führte. Dabei gelangte wiederum Wasserstoff in Schächte und in das Reaktorgebäude, was am 14.3. und 15.3. zu weiteren massiven Explosionen und Bränden führte. Als sich die Ereigniskette nach der zweiten Explosion auch in einem dritten Reaktor wiederholte, gelang es nicht den Druck abzulassen. Am Morgen des 15.3.2011 befürchteten nicht wenige in Japan den kompletten und dauerhaften Verlust der Kühlung in allen Reaktoren (und den angrenzenden Pools, die mit gebrauchten Brennstäben gefüllt waren). Dies hätte wohl eine massive Verstrahlung ganz Nordostjapans und die notwendige Evakuierung des Großraums Tokyo mit mehr als 30 Millionen Menschen zur Folge gehabt. Der damalige Leiter des Kraftwerks sagte im Nachhinein, er habe ein „zehnfaches Tschernobyl“ mit der „Zerstörung ganz Ostjapans“ im Kopf gehabt. Der Chef der Atomsicherheitskommission sprach später von einer möglichen Dreiteilung Japans mit bewohnbaren Gebieten im Westen und in Hokkaido und einer unbewohnbaren Zone in Ostjapan inklusive Tokyo (Takeuchi 2014, TS 2014). Glücklicherweise konnte ein derartiges Szenario verhindert werden. Nach dem 15.3. gelang es die Lage nach und nach wieder unter Kontrolle zu bringen. Die Stromversorgung wurde wiederhergestellt, der Austritt von Radioaktivität eingedämmt, und weitere Wasserstoffexplosionen wie auch die komplette Zerstörung der Schutzhülle konnten verhindert werden.

Trotzdem entwickelte sich der Unfall zur zweitgrößten Atomkatastrophe weltweit nach dem Unfall von Tschernobyl 1986. ..."