1968: Klausurtagung - Diskussion

Die Diskussion

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Drei Beiträge sollen den Gang und die Schwerpunkte der Diskussion wiedergeben. Der erste Beitrag versucht, die Diskussionen unter ihren verschiedenen Themen und weitgehend in der Reihenfolge der Referate zu erfassen. Der zweite Beitrag zeigt einige Aspekte auf, die vor allem für die japanischen Gesprächspartner wichtig waren. Im letzten Beitrag wird der Versuch gemacht, an einem einzigen Thema die Tiefendimension vieler auch persönlicher Gespräche zu verdeutlichen - das allerdings schon mehr in einer nachgehenden Reflexion, was durchaus der besonderen Art dieser Klausurtagung entspricht.

I. Der Gesprächsgang

Pfarrer Walter Böttcher

Unter dem Eindruck des Briefes von Moderator Suzuki, seines Hinweises auf die notwendige tiefgreifende Wandlung im Verhältnis von Kirche und Mission in Japan, und natürlich auch im Vorausblick auf die Vollversamm­lung des Weltkirchenrates in Uppsala, deren Thema "Siehe, ich mache alles neu" unter anderem mit dem Text von Römer 6 biblisch interpretiert werden sollte, richtete sich nach der Meditation von Prof. Hahn das Interesse der Diskussion auf das in der Taufe begründete Geschehen der Neugestaltung des menschlichen Lebens. Was bedeutet jene Analogie, durch die die Erneuerung des christlichen Lebens verbunden ist mit dem Tod und der Auferstehung Jesu Christi, das "Mit-Christus-sein" des Getauften? Die Antwort wies auf die kommunikative Kraft des Leibes Christi, der Kirche hin. Damit war ein Sach­verhalt aufgezeigt, der bis zum Schluß der Tagung wichtig blieb und schließlich auch die Abfassung des "Arbeitspapiers" mit bestimmte (1).

Die Unterscheidung von "corpus" und "soma", dem lateinischen und griechischen Begriff für "Leib'l, wurde als hilfreich empfunden. "Corpus" meint einen Organismus, der in sich selbst abgeschlossen ist, der nicht über sich selbst hinaus existiert. Das bedeutet im gesellschaftlichen Bereich eine Gemeinschaft, die sich selbst zum Objekt ihres Tuns machen kann und sich selbst als Subjekt eines Geschehens versteht (2).

"Soma", das neutestamentliche Wort, meint dagegen den zur Hingabe fähigen Leib, der in der Hingabe Kommunikation schafft. Hinzu kommt, daß der für die Sünde tote Leib in besonderem Maße kommunikationsstiftend wirkt. "Corpus" ist ein statischer Begriff, "soma" ein dynamischer. So jedenfalls in der theologischen Verwendung des Begriffs "soma Christou", "Leib Christi". "Mit Christus sein" bedeutet daher immer: über die eigenen Grenzen hinaus existieren, Kommunikation über sich selbst hinaus finden. Die Frage wird aufgeworfen, ob nicht sowohl die abendländische Kirche wie auch eine Missionsgesellschaft eben als "Gesellschaft" oder "Verein" ein korporatives Mißverständnis des Leibes Christi gefördert haben, ob nicht hier die Neubesinnung über das Verhältnis von Kirche und Mission in Japan einsetzen müßte? Später wurden von japanischer Seite Bedenken erhoben. Gerade das " Über die eigenen Grenzen hinaus Existieren" könne imperialistisch mißverstanden werden. Aber mit der Formulierung: "Kommunikation über sich selbst hinaus stiften und finden" ist man einverstanden. Die imperialistische Form des "über sich selbst hinaus Existieren" wird in den folgenden Gesprächen dann oft kritisch als" Inkorporierung" bezeichnet.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, daß die Tagungsteilnehmer in der "Göttinger Erklärung" (3) der DOAM einige Sätze fanden, die Mut machten, "Kommunikation über sich selbst hinaus" zu suchen. Dort heißt es unter anderem:

"Die Missionsgesellschaften (sind) jetzt einerseits dazu gerufen, ihren bisherigen Weg ernsthaft zu überprüfen, andererseits aber auch den Weg in die Zukunft ohne Sorge um den eigenen Bestand in Vertrauen und Hoffnung zu beschreiten" (Abs.2). "Die Integration (von Kirche und Mission) konn nur dann gelingen, wenn unsere Gemeinden diesen missionarischen Auftrag erkannt haben und bestimmte Aufgaben in eigener Verantwortung übernommen werden. Die Missionsgesellschaften sind darüber in Unsicherheit geraten und stehen in Gefahr, um ihre Selbsterhaltung zu kämpfen. Fernziel kann nur sein, daß die Missionsgesellschaften ihre bisherige Organisationsform aufgeben und mit den Kirchen zusammen zu neuen Formen missionarischer Wirksamkeit durchstoßen" (Abs.4).

Nun galt es eben, auf diesem Weg weiterzukommen! Das Referat von Prof. Gensichen über "Strukturen der deutschen Missionsgesellschaften" löste kritische Anfragen an die Gültigkeit der Missionsmotive aus. Mehrere Japaner sahen die Mission Hand in Hand gehen mit den kapitalistischen Expansionsbestrebungen. Dabei wurde auch auf die Analysen von Max Weber Bezug genommen: "Das Christentum hat unerwartet einen Dämon geboren. Das ist der Geist des Kapitalismus. Die Ursache dafür liegt in der Gesinnungsethik. Soweit ich Professor Gensichen verstanden habe, ist er der Meinung, daß der Gedanke der Mission aus einer inneren Geisteshaltung (gemeint ist hier das Bewußtsein der Verantwortlichkeit des Habenden gegenüber dem Nichthabenden) hervorkommt. Das ist Kapitalismus! Mit dem Christentum ist auch der Kapitalismus nach Asien gekommen. Beide haben dieselbe Krankheit!" Ein anderer Gesprächspartner: "Was ist Aufgabe der Mission? Daß der Reiche dem Armen gibt? Das ist Kapitalismus! Eine Kommunikation mit an­deren Völkern kommt erst dann zustande, wenn die Armut des anderen Men­schen einen uns in Frage stellenden Wert besitzt. Nur wenn der Missionar nichts mehr zu verkaufen hat, ist er bereit zu hören - und kann dann auch erst richtig redeni" - Es wird an 2. Kor. 6 erinnert: "Wir erweisen uns als Gottes Diener, als die Armen, die doch viele reich machen". Ein Japaner: "Wir sind nicht verantwortlich, weil wir haben, sondern weil wir vor Gott stehen. Wir haben zu dienen. Das ist der Weg von unten nach oben."

Demgegenüber sieht Prof. Gensichen nur eine äußerst beschränkte, jedenfalls keinerlei maßgebliche Verbindung zwischen Mission und Kapitalismus. Er hat einige eindrucksvolle Gegenbeispiele zur Hand (Jesuiten in Südamerika, die Herrnhuter). Den Gedanken eines Japaners aufgreifend, betont er, daß das eigene "Arm-sein" der Boten Gottes erfahren werde in der immer neuen Notwendigkeit der Volksmission, der Mission an getauften, ja auch bekehrten Christen. Doch dieser Hinweis reicht offenbar nicht aus. Auf der Seite der missionierten Kirche bleibt vielmehr ein starkes Gefühl der Abhängigkeit und Bedürftigkeit, ein Gefühl, dem auch die Demut des Missionars und seine Kritik an der eigenen Kirche nicht den bitteren Stachel nimmt.

Wie ist es dann zu erklären, daß etwa in Indien jetzt sehr vorsichtig die ehemals so starke Kritik an der Mission und den Missionaren zurückgenommen wird? Daß man, da viele Missionare nun wirklich gehen und andere erst gar nicht kommen können, sehr viel positiver über die Arbeit der Missionare, ja sogar über ihre politische Einflußnahme spricht? Diese Frage von Prof. Gensichen findet keine Antwort. Die Japaner befinden sich offensichtlich in einer anderen Situation.

Wieder in typisch japanische Verhältnisse führte ein Gespräch im Anschluß an einen Bericht von Prof. Rosenkranz über seine Erfahrungen in Japan. Den Teilnehmern wurde noch einmal die Zeit des faschistischen Kaiserkultes vor Augen gemalt. Die meisten Japaner glaubten im Unterschied zu Prof. Rosenkranz nicht, daß diese Zeit "echt japanisch" gewesen sei. Aber alle fürchteten das Wiederaufleben des gleichen Faschismus im Zeichen einer Wiederbelebung des staatlichen shintoistischen Kultes. Der Kampf um die Glaubensfreiheit der Christen muß sich daher notwendig erweise mit dem Kampf für die Freiheit aller Menschen, auch der Kommunisten verbinden. Ein Deutscher greift die Sache auf: "Wir machen uns unglaubwürdig, wenn wir als Deutsche - gleich, wo wir politisch stehen - hier nicht gegen die immer noch starke Verbindung von Christentum und Antikommunismus ankämpfen - und dann als Missionare nach Japan kommen, um dort für die Freiheit des christlichen Glaubens zu kämpfen. Wir müssen mit unserer missionarischen Aufgabe im eigenen Land anfangen, in der eigenen Gesellschaft. Der Kampf für Toleranz fängt hier an!"

Das war gleichsam die moderne Fassung jener von Prof. Gensichen erhobenen Forderung, der "äußeren Mission" müsse immer auch die Volksmission im eigenen Land entsprechen. Die meisten Teilnehmer schienen die moderne Fassung zu akzeptieren.

Sehr situationsnah erwies sich der kurze Erfahrungsbericht der Seniorin deutscher Missionsarbeit in Japan, Frau Gertrud Kücklich. Für sie gibt es nur eine Möglichkeit des Dienstes in Japan: das Leben in und mit der christlichen Gemeinde dort! "Wir sind also Angestellte des Kyodan. Wer sich allerdings nicht in die Karten schauen lassen will, dem wird das nicht passen ... Ich glaube, daß es wichtig ist, von Anfang an am japanischen Gottesdienst teilzunehmen. Wir hatten die Gewissenspflicht, den Gottesdienst zu besuchen wie zuhause. Dazu soll man in die japanische Kirche gehen und Gott begegnen mit der anbetenden Gemeinde und nicht denken: ich verstehe ja doch nichts davon! ... Diese Treue in der Anwesenheit ist gerade in Japan außerordentlich wichtig". Die entstehenden großen Schwierigkeiten und Nöte können nur in und mit der Gemeinde ertragen werden. Dann wird der Gemeindepfarrer, ein Japaner, vielleicht der beste Seelsorger für den Missionar! -Die wenigen Worte von Frau Kücklich brachten den Teilnehmern wieder das Ziel, die Aufgabe der Tagung deutlich vor Augen, während das nächste Referat von Heinzgünter Frohnes eine retardierende Wirkung hatte und damit geradezu ein dramatisches Element in den Gang des Gespräches brachte. Vor allem war es die provozierende These, eine Missionsgesellschaft könne sich nicht ändern, die für einen Augenblick den ganzen stürmischen Anlauf, den die Tagung genommen hatte, zum Stehen brachte. Dazu kam die Wiederaufnahme einer ganz personal gefaBten Motivierung und Zielsetzung der Mission, der sich der Referent verpflichtet sah.

In der weiteren Diskussion wurde jegliche Zielvorstellung kritisiert: "Die Bestimmung eines Zieles folgt einer typisch abendländischen Vorstellung. Ziele versklaven die Menschen, zwingen sie in einen Wettlauf, in dem nur die Besten gewinnen können. In Asien denkt man wohl nicht so sehr vom Ziel als viel mehr von der Kommunikation in der Gegenwart her". Ein Japaner ergänzte: "Die Bekehrung kann daher auch nur ein ,Ziel' haben, nähmlich die Gegenwart Christi in seinen geringsten Brüdern". Wirkliche Bekehrung ist somit immer verbunden mit einer Entdeckung der Solidarität. Anfänge der Diskussion nach der Meditation von Prof. Hahn klangen wieder auf. Aber dann gab es eine höchst polemische Zuspitzung. Ein Japaner sagte: "Bekehrung muß sein. Aber wozu? Sie ist oft genug eine Bekehrung zur Dummheit. Ich hörte einmal, die Erste-Klasse-Leute kommen zum Marxismus, die Zweite­Klasse-Leute zum Christentum, die noch Schlimmeren zur Mission!" Dummheit wird hier als "Beschränktheit" verstanden, als Verleugnung der kommunikativen Funktionen, in welchen der Mensch doch erst weise sein kann. In diesem Zusammenhang wird auf die Erklärung des Kyodan zur Mission (1961) verwiesen (vgl. S. 31 ff). Aber auch dieser Text bleibt nicht ohne Kritik. Er gilt als noch zu "pietistisch" mit seinem Anspruch, daß von der zentralen Gemeinde her das "Gute" ausgehe in die Welt.

Mit den Referaten der Japaner wurden die von Moderator Suzuki vertretenen Positionen erläutert und begründet. Jetzt drängte die Diskussion weiter. Der Dienst der DOAM stand zur Debatte. "Nur eine DOAM, die hier in der Heimat richtungweisend sein kann, kann auch in Ostasien wirksam werden!" Richtungweisend aber heißt, daB ökumenische Gemeinschaft als verpflichtete Gemein­schaft erkannt wird und als solche auch ihren Ausdruck findet. Dadurch werden notwendigerweise die rechtlichen Strukturen nicht nur der Missionsgesellschaften, sondern auch der Kirchen in Deutschland erheblich tangiert. Die Teilnehmer glaubten, daß die "Göttinger Erklärung der DOAM" die kritischen Anfragen an die Kirchen in Deutschland noch zu sehr aus dem Gegenüber aktiver Missionsfreunde zur organisierten Kirche formuliert hat. Ein anderes Gegenüber wäre jetzt wichtiger und realistischer: eben das einer solchen ökumenisch verpflichteten Gruppe, in der die korporativen Elemente mehr und mehr ausgeschieden und neue missionarische Möglichkeiten durch neue Kommunikationsweisen erschlossen werden.

Da die elementaren Interessen gerade auch der Theologiestudenten im Be­reich der Hochschulen auf den Abbau der korporativen Elemente (z. B. des "Lehrkörpers") ausgerichtet sind, ist solange nicht mit Nachwuchs für missionarische Aufgaben zu rechnen, als Kirchen und Missionen korporativ bleiben. Am Ende der Tagung blieb der Eindruck, daß jetzt nur ein entschlossenes Weitergehen auf dem begonnenen Weg hineinführt in eine neue, gehorsame Teilhabe an den Taten Gottes und ihrer Bezeugung in der Welt.

Anmmerkungen

1) Vgl. Absatz (2) des Arbeltspapiers, S. ????

2) Vgl. dazu W. Böttcher: „Die Bedeutung der Kainonia für das Zeugnis der Kirche“ in „Das missio­Wort“, Nov./Oez. 1967

3) „Erklärung der Deutschen Ostasien-Mission (OOAM) auf der 82. Jahrestagung in Göttingen am 10. Oktober 1966“, veröffentlicht in „Christus In Fernost - Mitteilungen der Deutschen Ostaslen­Mission“, Nr. 4, 1966, S. 4f, und als Sonderdruck.

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II. Eine Bestandsaufnahme aus japanischer Sicht

Pfarrer Hiromichi Morita



Nach der ersten Klausurtagung der Deutschen Ostasienmission im Monbachtal schien es einigen japanischen Teilnehmern unentbehrlich, den Anregungen der Tagung nachzudenken und Bilanz zu ziehen. So trafen sie sich in einem kleinen Kreis und faBten die Ergebnisse ihres Nachdenkens zusammen. Ihre Notizen blieben nicht in der Schublade des eigenen Arbeitstisches liegen, sondern wurden an die japanische Deutschland-Kommission weitergeleitet. Hier soll der Bericht mit der notwendigen stilistischen Bearbeitung wiedergegeben werden.

Die neue Ausrichtung der DOAM, durch die diese Klausurtagung erst ermöglicht worden ist, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Da das Problem der Mission in der Kommunikation besteht, müssen die Hindernisse der beiderseitigen Verständigung beseitigt werden. Das einwöchige Zusammenleben der Japaner und der Deutschen in der Klausurtagung und die zwisdlen ihnen stattgefundenen lebendigen Gespräche eröffneten Wege zur besseren beiderseitigen Verständigung. Wir sind uns jetzt darüber im Klaren, daB die zum Teil noch bestehende einseitige und manchmal anachronistische Beurteilung Japans nichts anderes ist als ein Hindernis für "joint action for mission". Der größte Ertrag der Gespräche besteht darin, daß wir gelernt haben, einander Gehör zu schenken und vom Gesprächspartner zu lernen. Da geschah der lebendige Dialog, in den die Gesprächsteilnehmer durch den Prozeß der Kommunikation hineingezogen worden sind.

Wir können die wichtige Rolle, die deutsche Japan-Missionare in unserem Gespräch spielten, nicht übersehen. Ihre Erfahrungen müssen in der Planung der Heimatarbeit und der missionarischen Tätigkeit in Japan noch stärker berücksichtigt werden.

Nun sind einige Aspekte, die uns Japanern wichtig erscheinen, aufzuzeigen:

1. Es ist unbedingt notwendig, daß die Missionare mit den japanischen Christen im "team" zusammenarbeiten. Einerseits müssen die Missionare in der japanischen Kirche anwesend und am Christenleben der Japaner tief beteiligt sein. Diese einfache, aber wesentliche Tatsache wurde in der Klausurtagung zur Kenntnis gebracht. Andererseits muß die japanische Kirche zur Aufnahme der ausländischen Mitarbeiter ins "team" bereit sein.

2. Über die seit langem bestehende Frage der Integration der Mission in die Kirche wurde erneut diskutiert. Bis zur vollständigen Integration auf deutschem Boden ist es noch weit. Da für die japanischen Christen aber die Mission selbstverständlich eine der wesentlichen Funktionen der Kirche bildet, scheint ihnen jene Fragestellung fremd. Aber beim näheren Zusehen können wir doch feststellen, daß auch wir fragen müssen: Wie kann unsere Kirche wahrhaft missionarischen Charakter und Struktur gewinnen? Hüben und drüben gibt es das gemeinsame Problem, daß die Kirche entsprechend ihrer Missionsaufgabe umstrukturiert werden muß. Die japanischen Theologen durften den geschichtlichen Hintergrund des Problems der Mission in Deutschland aufs neue zur Kenntnis nehmen. Zur Weiterüberlegung der Missionsfrage sind solche Informationen von wesentlicher Bedeutung.

3. Angesichts der veränderten Situation der Mission, d. h. des Heranwachsens der jungen Kirche bleibt die alte Frage noch ungelöst, nämlich: Was kann und muß ein Missionar in Japan tun? Wir müssen aber weiter fragen: Worin liegt seine konkrete Hauptaufgabe ? Oder ist die Zeit der Missionare schon vorüber? Oder ist die Benennung "Missionar" nicht mehr zu gebrauchen, da er sich angesichts seiner neuen Aufgabe umstellen muß? Es gäbe ja die Möglichkeit, daß ein Missionar als ausländischer "kooperierender Pfarrer" oder als "ökumenischer Vertreter" für die japanische Kirche tätig sein kann. Wir könnten für unsere weiteren Überlegungen davon ausgehen.

4. Für die Vertiefung der gegenseitigen Verständigung und der partnerschaftlichen Zusammenarbeit wäre zu wünschen, daß eine ähnliche Klausurtagung der Japaner und der Deutschen auch auf japanischem Boden stattfindet.

5. Wer den Missionsauftrag für Japan ernst nehmen will, muß der heutigen politischen und gesellschaftlichen Situation Japans Rechnung tragen. Wegen des Vietnamkrieges wird in Japan die Glaubwürdigkeit des Christentums in Frage gestellt. Es besteht einmal Gefahr, daß die echte Verkündung des Evangeliums durch die hysterische antikommunistische Ideologie mancher Christen verdunkelt wird. Zum anderen darf die Mission die Frage der sozialen und der internationalen Gerechtigkeit nicht aus dem Blickfeld verlieren. So fühlten sich die Tagungsteilnehmer dazu aufgefordert, folgende Erklärung über den Vietnamkrieg abzugeben:



 

An die Deutsche Ostasien-Mission

Wir, die Teilnehmer an der Klausurtagung, nehmen ernst, daß jetzt durch den grausamen Krieg in Vietnam unzählige Menschen getötet werden.

Viele Japaner meinen, wie andere Asiaten auch, daß in diesem Land au~gerechnet Christen Nichtchristen morden. Aus dieser Meinung ziehen sie die Konsequenz: "So ist das Christentum; es ist uns ganz unglaubwürdig geworden". Diese Stimme der Japaner dürfen wir nicht verkennen. Die Christen in Japan sind der Herausforderung durch die nichtchristliche Seite konfrontiert: "Ihr verkündigt, was ihr eigentlich nicht glaubt." Beim Vollzug der Missionsarbeit in Japan müssen wir das Problem des Vietnamkrieges zur Kenntnis nehmen.
Die heimliche oder öffentliche antikommunistische Ideologie der Mehrheit der Christen unterstützt die Kriegsführung in Vietnam.
Um das Evangelium richtig zu verkündigen und um unnötige Mißverständnisse zu vermeiden, bitten wir die Deutsche Ostasien-Mission,
1. sich mit der antikommunistischen Ideologie in Deutschland auseinanderzusetzen und
2. in den Gremien, in denen sie vertreten ist, darauf hinzuwirken, daß alles Mögliche getan wird, damit dieser Krieg möglichst bald ein Ende finde.

Monbachtal, den 4. April 1968

Die Teilnehmer: P. Schneiss, H. Morita, H. Fath, G. Tokunaga, J. Tokunaga, Y. Akaike, K. Schneiss, F. Joecks, Y. Terazono, H. Murakami, M. Terazono, G. Fath, W. Böttcher, B. Böttcher, R. Joecks, H. Jung, K. Fujimura, K. Shimada, R. Shimada.



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III. Zum Problem des SendungsbewuBtseins"

Pfarrer Walter Boettcher



In Ergänzung zu den vorgelegten Referaten und den beiden allgemeinen Diskussionsberichten soll eine für die weitere Zusammenarbeit mit den japanischen Kirchen wichtige Frage noch einmal gesondert auf dem Hintergrund der Gespräche im Monbachtal erörtert werden. Gegen Ende der Klausurtagung war das Problem des "Sendungsbewußtseins" der Kirche im Anschluß an das Referat von Hiromichi Morita deutlich in den Vordergrund getreten. Nach der Tonbandaufzeichnung entwickelte sich das Gespräch etwa wie folgt:

MURAKAMI: Wir haben viele gleiche Probleme, wir sollten aber ein typisches Problem der japanischen Kirche aufgreifen. Frage: Was ist ein solch typisches Problem?
MORITA: Ein typisches japanisches Problem wird keine Hauptrolle spielen. Kleinere Probleme gibt es, aber die können nur typisch japanisch gelöst werden . . . Das größte Problem könnte die stagnierende Missionsstruktur der Kirche sein. Irgendwie funktioniert sie nicht.
TOKUNAGA: Meines Erachtens ist unser Problem, daß unsere Kirche eine Minderheit ist. Es gibt viele Leute, die sagen, wir Christen sind zu wenig, unser Glaube spielt eine zu geringe Rolte. Aber ich meine das ist eher eine starke Seite unserer Kirche!
BÖTTCHER: Die Isolierung der Bekehrten ist in Japan anders als in Deutschland. In Deutschland gilt der Bekehrte lediglich als besonders fromm. Er kann aber in der Gesellschaft eine normale Rolle spielen. Er ist zwar religiös auffällig, nicht aber sozial. In Japan ist der Bekehrte leicht von der Umwelt isoliert. Das kann zweierlei bewirken: 1. Er wird traurig, weil er keine Rolle mehr spielen kann. 2. Er macht aus der Not eine Tugend: Er will keine Rolle mehr spielen und isoliert sich. Die Frage lautet: Wie kann der Christ zu einem normalen Verhältnis zu seiner Umwelt kommen?
JOECKS: Das ist bei uns in Deutschland leicht, in Japan schwer, das vom Buddhismus und Shintoismus geprägt ist.
MORITA: Darum geschieht es, daß man am Sonntag wie ein Christ lebt, im Alltag wie die anderen ... ­
BÖTTCHER: Wir in Deutschland sind eben religiös "entlastet". Die Gesellschaft fordert nicht Tag für Tag das Besondere des christlichen Bekenntnisses heraus. Das Christliche ist mehr oder weniger gesellschaftlich instutionalisiert. Der Japaner dagegen bleibt immer unter emer Last, nämlich unter dem Zwang des Bekennens oder Verleugnens. Da bleiben ihm nicht viel Uberschüssige Kräfte für den Entwurf missionarischer Programme, die in die Öffentlichkeit drängen! -
MORITA: Ich bitte japanische Freunde zu antworten. - Lange Pause
MURAKAMI: Nach meinem Studium kam ich in ein kleines Städtchen zu einer Pioniermission. Nach 3 Tagen war ich erschöpft und konnte nicht mehr und war verzweifelt. Dann bekam ich eine Karte von Herrn Suzuki. Darin schrieb er: ,In Deiner Stadt ist Christus, auch in Deiner Stadt'. Dies kleine Wort hat mich völlig erneuert. Diese Stadt ist meine Stadt, und da ist Christus. Das Evangelium gibt uns die Freiheit des Zusammenseins mit allen Leutenl

 

In diesem Gespräch kulminierten zahlreiche vorangegangene Gespräche zwischen den Teilnehmern. Entscheidend wichtige Passagen der Vorträge der japanischen Theologen spielten mit in die Diskussion hinein. Wir versuchen, aus den hier veröffentlichten Referaten einen Kontext zum Verständnis der Diskussion zusammenzustellen.

Pfarrer Murakami hat in seinem Vortrag (1) davon gesprochen, daß in Japan die Zeit nach dem Krieg durch ein besonderes "Sendungsbewußtsein" des Kyodan bestimmt gewesen sei. Das "eigentliche Problem" dieses Bewußtseins skizzierte er so: "Ist es möglich, über die Sendung und Verantwortung des Kyodan zu reden, ohne Buße im eigentlichen Sinn des Wortes zu tun?" Pfarrer Morita deutete an, daß das Modell einer so "sendungsbewußten" Kirche wohl aus Europa stammen könnte: "Zielt man nicht auf das Christ-werden aller Menschen der Heidenwelt zugunsten der Kirche, auf die Christianisierung oder gar Inkorporierung des ganzen Volkes in die japanische Kirche, deren Vorbild die angeblich christliche Welt Europas ist?" (2) Pfarrer Tokunaga hat an einem eindrucksvollen Beispiel gezeigt, wie es der amerikanische Missionar Baldwin verstanden hat, "unsere Gemeinde immer als eine richtig japanische Gemeinde aufzubauen" - und wie sich dennoch die Notwendigkeit abzeichnet, zu einem neuen Selbstverständnis zu kommen (3). Einerseits muß Japan aufhören, Objekt eines abendländischen Sendungsbewußtseins zu sein, andererseits muß es sich aber auch selbst von einem abendIändischen Sendungsbewußtseins frei machen. Auch Tokunaga sieht daher den ersten Schritt einer selbständig werdenden Kirche in der Buße.

Wir können zusammenfassen: Es scheint so, daß man in Japan nicht nur die Krise des eigenen Sendungsbewußtseins erkennt, sondern diese zugleich zu verstehen sucht in einer kritischen Auseinandersetzung mit der abendländisch­westlichen Welt und ihrem "Sendungsbewußtsein", dem man selber mit der Übernahme kolonialistischer und imperialistischer Ansprüche und Praktiken verfallen war. Die Buße, die die Kirche zu leisten hat, ist so unmittelbar eingebettet in die "politische Umkehr", um die Japan immer noch ringen muß. Es ist verständlich, wie außerordentlich wichtig auf diesem Hintergrund das Schuldbekenntnis des Kyodan ist. Und es ist eindrucksvoll zu sehen, wie entschlossen der Kyodan in das Stadium einer so klaren und echt kirchlichen und christlichen Selbstbesinnung tritt - und dieses nicht unter dem Schock eines verlorengegangenen Krieges, wie bei uns in Stuttgart (wie bald war mit der Stimmung der Niederlage dann auch die "Bußstimmung" verflogen!), sondern inmitten der Zeit herrlichster und machtvollster Selbstentfaltung des neuen Japan. Die Einmatigkeit der Japaner in dieser Sache trat deutlich zutage, ebenso ihr großes Vertrauen zu Moderator Suzuki, der für das Zustandekommen des Schuldbekenntnisses entscheidende Bedeutung hatte. Wenn man einmal gesagt hat, der Kyodan sei keine wirkliche Kirche, da er seine Entstehung nur äußerem Druck und äußerer Veranlassung verdanke, so kann man dieses Urteil jetzt auf keinen Fall mehr aufrechterhalten. Die unter ganz anderen Voraussetzungen entstandene "Evangelische Kirche in Deutschland" dUrfte zur Zeit tiefer in äußere Zwänge und Probleme hineingeraten sein als der Kyodan.

Um so mehr haben wir in Deutschland die Aufgabe, Ober die Herkunft des uns zur Last gelegten "ungebrochenen" Sendungsbewußtseins kritisch nachzudenken, in welchem wir viel eher daven ausgehen, daß wir Christus den anderen "zu bringen" haben, als daven, daß er bei den anderen ja schen ist, inmitten der wirklichen Verhältnisse dert. Wir sind als "sendende Kirche" wie auch als "sendende Missionsgesellschaft" gefragt, wie weit wir selber jenes falsche Sendungsbewußtsein nach Japan wie auch zu den anderen Missionsländern vermittelt haben und - trotz unserer theologischen Rede von der Missie Dei - immer nech zu vermitteln im Begriff sind.

Ausgangspunkt sei hier eine soziologische und psychologische überlegung, die in Gesprächen vor allem mit Herrn Morita und Herrn Murakami zur Sprache kam und vorgeklärt werden konnte und dann mit meinem Votum über das Problem der "Entlastung" in die allgemeine Diskussion gekommen ist - wobei. es schwierig war, diesen Begriff für eine Übersetzung ins Japanische klar genug zu bestimmen.

Woher kommt das abendländische Sendungsbewußtsein? Die gegenwärtige seziologische Forschung ist zu einer weitgehenden Einmütigkeit darüber gelangt, daß die Entlastungen, die durch die Ausbildung einer hochdifferenzierten arbeitsteiligen Wirtschafts-und Gesellschaftsform bewirkt werden, gleichsam überschüssige Kräfte freisetzen, die über den eigenen partikularen Bereich hinaus nach Wirkungsmöglichkeiten verlangen. Es werden "universale" Ideen wie auch "universale" Handlungsweisen ausgebildet, die auf das Ganze der Welt gerichtet sind. Im abendländischen Bereich hat nun der Glaube an den einen Gott und seine Herrschaft über die ganze Welt diesen Prozeß außerordentlich beschleunigt. Frühe und entscheidende Anfänge finden sich bereits im Alten Testament. Die Gestalt Abrahams wurde schon von Hegel so gedeutet: Emanzipiert von der Natur, reflektiert Abraham auf das Ganze des Daseins. Aus dem Polytheismus der Naturgötter erhebt sich der Monotheismus des einen, universalen Gettes, dem die "Erwählten" in völliger Unterwerfung unter ihn und, unmittelbar daraus felgend, in der Unterwerfung aller Völker und der ganzen Natur unter die im eigenen Staat ausgebildete Theokratie zu dienen suchen. Israel ist - so Hegel - die Geburtsstätte eines despotischen Universalismus (4). Die überschüssigen Kräfte wurden gewissermaßen mit einer religiösen Potenz aufgeladen, die außerhalb des Christentums so nirgends zur Verfügung stand. Se ist es nicht zu verwundern, daß die expansiven Schübe der abendländischen Geschichte gleichsam immer auch ihre "christliche Begleitmusik" gefunden haben. Von den Kreuzzügen angefangen bis hin zu der Zeit, die als die große Zeit des Imperialismus in die Geschichte eingegangen ist und die zugleich als das "Jahrhundert der Mission" gefeiert wurde, an dessen Ende dann schließlich auch das japanische Gefilde erreicht wurde!

Welche merkwürdige Synchronisation! Wir haben vorweg festzustellen: In den ersten Jahrhunderten der Christenheit lagen die Dinge anders. Wenn es irgendwe zur Ausbildung überschüssiger Kräfte gekommen war, so hatten sich diese Kräfte im Kampf gegen das Christentum zusammengefunden. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Veraussetzungen für eine auf das Ganze der Welt zielende Expansion fanden sich bei den Römern und nicht bei den unter­privilegierten Christen! Diese sicher recht grob skizzierte Gegenüberstellung reizt dazu, den Prozeß der Entlastung in seiner Bedeutung für die Ausbildung eines dominierenden Sendungsbewußtseins noch kritischer zu beobachten. Dabei stellen sich felgende Fragen:

1. Wie verhalten sich Entlastung und Belastung in der abendländischen Gesellschaft zueinander?

2. Welchen Ort hat die Diakenie in der entlasteten Gesellschaft bezegen?

3. Welche Funktien erfüllt die Missien der Kirche in der entlasteten Gesellschaft?

Die folgenden Ausführungen gehen von einer kurzen Analyse aus, in der versucht wird, den zuvor beschriebenen Vorgang des Freiwerdens überschüssiger Kräfte durch gesellschaftliche Entlastungen kulturgeschichtlich zu klären. Es handelt sich um einen Versuch und demgemäß um eine nur experimentelle Anordnung und Zusammenstellung von historischen Fakten. In gewisser Weise muß eine solche experimentelle Anordnung "ideologisch" bestimmt sein. Eine Fülle von Vorurteilen werden in ihr zunächst einmal fixiert. "Überzeugungen" kommen mit ins Spiel, hier eben auch jene, daß selbst historische Wissenschaft unmöglich ideologiefrei arbeiten kann, ferner "Schlagworte" , die sehr komplexe Sachverhalte erschreckend vereinfachen. Der Leser wird dabei nicht so. sehr um die Nachprüfung gebeten, ob es sich denn alles wirklich so verhält. Er sell vielmehr der Darstellung folgen mit der Frage: "Angenommen, es wäre wirklich so. - was wäre dann? ... ?" Aber immerhin: Das Ganze ist wirklich nur eine experimentelle Anordnung. Sie so aufzubauen wird veranlaßt durch die auf der Klausurtagung bestätigte Erfahrung, daß in der kritischen Auseinandersetzung zwischen den Kulturen im Augenblick des Gespräches "Erklärungen" wichtiger sind als historische "Begründungen". Begründungen zementieren leicht den status quo. "Erklärungen" setzen die Gegebenheit aufs Spiel. Eine geschichtliche "Umkehr", wie sie japanischen und deutschen Teilnehmern gleicherweise notwendig schien, soll ja durch die folgenden Reflexionen nicht ausgeschlossen werden, sondern in den Blick kommen. Die Wucht der Anfrage kann und darf dabei nicht sofort und Schritt um Schritt im Streit darüber, wie es denn nun wirklich war, gebremst werden. Wer hier antworten kann, soll und mag dann auch gerne wieder die selbst vollgezogene Umkehr relativieren.

Unser Versuch folgt übrigens nur scheinbar marxistischen Fragestellungen. Bei genauerem Hinsehen wird man feststellen können, daß er jener "jahwistischen" Konzeption folgt, die die ursprüngliche Belastung menschlichen Daseins im weltgeschichtlichen Horizent aufdeckt (5) - eine Konzeption, die schließlich in deutlichem Gegensatz zu der marxistischen Verstellung eines gänzlich entlasteten Daseins in der klassenlosen Gesellschaft steht.

Zu 1: Mit der Arbeitsteilung ist zunächst nur gegeben, daß ein Mensch in dem Maße zu Lasten anderer leben kann, als er selber an den Lasten der anderen mitträgt. Im genossenschaftlichen Prinzip wie auch in den heute selbstverständlich gewerdenen sezialen Verpflichtungen der Gesellschaft ist diese Grundstruktur der Gegenseitigkeit noch deutlich erhalten. Wir vergegenwärtigen uns die Schwierigkeiten dieses Prozesses:

Das Prinzip der Wechselseitigkeit ist in der Abwicklung von Tauschgeschäften noch unmittelbar einsehbar. Es wird abstrakter und schwieriger zu greifen, wenn der Geldhandel an die Stelle des Tauschhandels tritt. Die Arbeitslast, die bei der Herstellung der Waren getragen worden ist, haftet den Gegenständen gleichsam noch an und bestimmt sichtbar ihren Wert. Am Geld haftet kein solcher Eindruck. Die "Last" wird unsichtbar. Sichtbar wird im Glanz des Goldes das Spiel der Möglichkeiten dessen, was man mit dem Geld jetzt alles erst "anfangen" kann. Die Phantasie entzündet sich an diesem Anblick und entdeckt die Möglichkeiten freier Tätigkeit im Vorgriff auf Neues, noch nie Dagewesenes. Der Unternehmer wird geboren, der mit dem Geld nun erst etwas "anzufangen" weiB. Die "Last", die mit der Erwirtschaftung des Geldes getragen worden ist, kommt als das Vergangene nicht mehr in den Blick. Die Phantasie ist auf das Äußerste gereizt, in der schöpferischen Produktion das Phänomen der Belastung überhaupt zu tilgen.

Nur langsam dämmert uns, wie sehr wir in diesem Prozeß Opfer einer Selbsttäuschung geworden sind. Tatsächlich korrespondiert der Entlastung immer eine gleichstarke Belastung. Nur haben wir die Belastung aus unserem Bewußtsein und aus unserem Gesichtskreis überhaupt verdrängt: in Krankenhäuser, auf die Schlacht-Felder, in die Slums (zunächst unsere eigenen, dann die des Proletariats der Kolonialvölker). Den ungeheuer großen Potenzen der Entlasteten stehen eben so große Belastungen der anderen gegenüber. Die "freie Welt", die "freie Wirtschaft", der "freie Unternehmer" sie alle sind Ursache und Produkt jenes Unsichtbarwerdens der Belastungen in der Gemeinschaft der Menschen. Wir stehen heute vor der erschütternden Erkenntnis, daß jene "überschüssigen Kräfte", die durch gesellschaftliche Entlastungen freigesetzt worden waren, in Wahrheit die Lebenskräfte ausgebeuteter Menschen und Völker waren. Überschüssige Kräfte haben wir eben nicht, sondern gerade nur so viel Kraft, daß einer des andern Last tragen kann!

Hier taucht natürIich die Frage auf, ob dies alles nicht auch und jetzt in besonderer Weise für das moderne Japan gilt. Es gibt Gründe, dies trotz der ungeheuer expansiven Kraft der japanischen "kapitalistischen" Wirtschaft zu bezweifeln (6).

In der japanischen Gesellschaft hat die Korrespondenz von Belastung und Entlastung im Beieinandersein von Schmerz und Freude immer eine größere Bedeutung gehabt und behalten. Das mag u. a. daran liegen, daß die japanische Gesellschaft nicht wie unsere Gesellschaft in "Ständen" organisiert ist, die horizontal gegeneinander isoliert sind, sondern in vertikal kommunizierenden Gruppen, die dann freilich vertikal auch weitgehend isoliert bleiben (7). In Japan bleiben Hohe und Niedere, Befehlende und Gehorchende einander näher als bei uns. Der Kaiser und das Volk, das Management und die Arbeiter befinden sich auch bei stärkster Ausprägung hierarchischer Ordnungen in starken, familiären Beziehungen zueinander. Und umgekehrt: Die familiären Beziehungen spiegeln auch die hierarchischen Ordnungen der Gesellschaft und des Staates wider. So bleiben auch entfernte gesellschaftliche Prozesse "hautnah". Entlastungen und Belastungen bleiben dichter aufeinander bezogen.

Eine gewisse Rolle spielt bei dieser so engen Beziehung von Entlastung und Belastung natürlich auch die ganz andere, nämlich positive Einstellung des Asiaten zum Schmerz und zum Tod. Das ist inzwischen auch schon im Bereich der christlichen Theologie deutlich geworden, nämlich mit der "Theologie vom Schmerze Gottes" von Kitamori (8). Der "japanische Kapitalismus" verdankt merkwürdigerweise seine internationalen Erfolge nicht zuletzt der Tatsache, daß die Organisation der Betriebe und des Managements immer noch auf jene alten Grundstrukturen japanischen Gemeinschaftslebens zurückgreifen kann. So gelingt eine erstaunliche Zusammenfassung der eigenen Interessen gegenüber den konkurrierenden, nicht-japanischen Interessen des Welthandels. Der japanische Staat tritt gleichsam noch im geschlossenen Familienverband auf dem Weltmarkt auf. D. h. aber, daß die japanische Lösung des Problems der Korrespondenz von Belastung und Entlastung eben japanisch ist und bleibt und keine Relevanz für die internationale Ordnung des Weltmarktes gewinnt. Dort fördert vielmehr das eigentümlich Japanische nur den allgemeinen kapitalistischen Effekt!

Zu 2: Welchen Ort hat die Diakonie in der "entlasteten" Gesellschaft bezogen? Die Diakonie der Kirche sollte der Ort sein, an dem jene Korrespondenz von Belastung und Entlastung erkannt wird. Sie hat diesem Anspruch aber nur in sehr unvollkommener Weise und bruchstückhaft entsprechen können. Die Kirche selbst war ja weithin eingefügt in den Prozeß der einseitigen Selbstentlastungen der Gesellschaft, nicht nur durch ihre zeitweilige Nähe zur Entwicklung des Frühkapitalismus (Max Weber), sondern auch in ihrem eigenen Bereich: Die hohen religiösen Spezialisierungen, die sich gleicherweise im kirchlichen wie auch im theologischen und konfessionellen Bereich ausgeprägt haben, gingen ja schon immer zu Lasten anderer, die in diesem ganzen Prozeß zumeist einfach übersehen wurden. Was Glauben und Bekennen hieß, wurde weithin von Spezialisten bestimmt, die vom Ertragen der Lasten eines gewöhnlichen beruflichen Daseins, ja überhaupt von der Erfahrung der Säkularität der Welt "freigestellt" waren. Obwohl Diakonie immer als Sache vornehmlich der Laien empfunden und auch proklamiert worden ist, haben die Laien in ihr doch kaum eine mitbestimmende Funktion gewonnen, es sei denn, sie konnten sich wiederum mit speziellen Kenntnissen im Blick auf Verwaltung, Organisation, Finanzierung oder ärztliche Betreuung besonders hervortun. Gefragt aber müßte gerade die Funktion derer sein, die in jeder Hinsicht Laien sind.

Welchen Widerstand leistet die Diakonie dagegen, daß die Zukunft entworfen wird aus den Projektionen eines entlasteten und insofem freien Daseins, entworfen wird aus den Phantasien des homo faber, der die schrecklichen Zeichen menschlicher Ohnmacht und menschlichen Leidens aus seinem Gedächtnis gestrichen hat? Wo hilft die Diakonie dazu, daß die Zukunft projektiert wird nicht aus den Vorstellungen einer "verantwortlichen Gesellschaft, die als solche fähig und in der Lage ist, für andere zu sorgen, sondern aus den Vorstellungen einer Gemeinschaft, in der Starke und Schwache beieinander sind und wechselweise Hohe und Niedrige, Gebende und Nehmende das erste Wort haben? Wo wird deutlich, daß in der Diakonie der Kirche Freiheit gewonnen wird nicht im Vergessen der Belastungen, die die Gegenwart von der Vergangenheit her so sehr beschweren, sondern in der Vergebung von Sünde und Schuld? Wo entzündet sich die Phantasie der Liebe an der Auferstehung von den Toten statt an dem Willen, unter allen Umständen zu überleben? Tiefe Eingriffe in die Mechanismen der Leistungsgesellschaft und in die Herrschaft der Spezialisten werden unvermeidbar. Die tabuisierenden Grenzziehungen zwischen oben und unten müssen auch gesellschaftlich durchbrochen werden. So macht die Diakonie der Kirche heute die gesellschaftlichen Rollen transparent für den Dienst, den Gott selbst an Menschen tun will.

Die besondere Aufgabe, die sich für die Diakonie in Japan stellt, dürfte bestimmt sein durch das Problem der "vertikalen" Geschlossenheit der Gesellschaft Japans. An dieser Stelle würde der Protest gegen das Wiederaufleben eines faschistischen Kaiserkultes auch gesellschaftlich relevant werden. Da ein solcher Protest nicht mehr nur religiös bestimmt wäre, würde er solidarisch werden mit anderen internationalen Protestbewegungen wie auch mit jenen kulturellen Strömungen, durch die die besonderen japanischen Kommunikationsmöglichkeiten, das Miteinander von Lachen und Weinen, Schmerz und Freude, längst tiefe Eindrücke auch in der westlichen Welt hinterlassen haben. Im gegenwärtigen Augenblick hätten wir in Europa und Amerika allen Grund, fremde Modelle diakonischer Arbeit in Japan, wie sie jetzt vor allem auf dem Gebiet der politischen Diakonie entwickelt und für den Bereich der sozialen Diakonie geplant sind, bereits in ihren Anfängen sehr ernst zu nehmen und unsere eigenen neuen Modellentwürfe der Diakonie im ökumenischen Gespräch mit unseren japanischen Freunden zu entwickeln. Insofern ist das soziale Engagement gerade auch der japanischen Theologen - das sich freilich in unserer deutschen Sprache, d. h. in einem durch und durch fremden Verstehenshorizont, sicher nicht leicht äußern kann! - für uns so wichtig.

Zu 3: Welche Funktion erfüllt die Mission der Kirche in der "entlasteten" Gesellschaft? Entgegen allen erklärten Intentionen wären - im Zuge der hier aufgezeigten Entwicklung - der abendländischen Missionsbewegung folgende Fehler unterlaufen:

a) Das "Elend" der Heidenvölker, das als Missionsmotiv eine so große Rolle gespielt hat, war so groß nun auch wieder nicht, als daß es dort nicht auch hervorragend funktionierende Korrespondenzen zwischen "Belastung" und "Entlastung" gegeben hätte. Der gute missionarische Wille, eben das Sendungsbewußtsein der Kirche, blieb zumeist blind für diese Funktionen. Das Evangelium wurde als die einzige, wahre "Befreiung" und "Entlastung" angeboten ohne jenen Zusammenhang mit dem, was jene Völker selbst an sozial wirksamen Strukturen ausgeprägt hatten. Es ist kein Wunder, daß dieses Angebot oft mißverstanden worden ist: nämlich als extreme Möglichkeit einseitiger Entlastung, radikaler Loslösung aus den "belasteten" Verhältnissen, als Aufkündigung der sozialen Verpflichtungen, in denen man bis dahin lebte. So haben viele Christen in den Missionsländern gerade das am Christentum gelernt, was seine problematischste Fehlentwicklung ist. Um so erschütternder mußte der Augenblick werden, in dem es den so Befreiten dämmerte, daß nun erst ihre wirkliche Knechtschaft begonnen hatte. Waren Sie nicht zugleich in völlige Abhängigkeit von den "christlichen" Kolonialmächten geraten? Nachdem sie freiwillig und mit Begeisterung die Fesseln abgeworfen hatten, die sie an ihre alten Ordnungen banden, fanden sie sich nun mit stählernen Ketten gebunden. Die einmal abgebrochene Korrespondenz von Belastung und Entlastung ließ sich für die nun so oder so anders Belasteten nicht mehr herstellen. Läßt sie sich wiederherstellen? Es ist kein Wunder, wenn nun die alte heidnische Zeit im verklärten Licht erscheint mit ihren Tänzen und getrommelten Traditionen, den großen Festen und feierlichen Riten, die die Waagschale der täglichen Mühsal des Lebens wohl ins Gleichgewicht mit den heiteren Freuden des Daseins zu bringen vermochten. Und gegenüber den dämonischen Ängsten, denen die Heiden unterworfen waren und gegen die sie so schrecklich grausame und blutige Rituale zelebrierten, rechnet man uns nun unsere eigenen Ängste auf, die ja auch wir erlitten haben und erleiden und die ein apokalyptisches Ausmaß auf den Schlachtfeldern der Weltkriege und in den Konzentrationslagern gewonnen haben. Afrikaner sagen uns: Von einem in unseren Wäldern begangenen Ritualmord erzählten euere Missionare noch bis an ihr Lebensende, um die Schrecken des Heidentums zu schildern; und sie reisen mit diesen Geschichten von Gemeinde zu Gemeinde - um dann das Wort von der großen Befreiung zu verkündigen. Was wäre, wenn wir von eueren Ritualmorden reden wollten, bis an unser Lebensende und von Gemeinde zu Gemeinde!

b) Man übersah und übersieht es noch weithin, daß in einer solchen Situation der Missionar nur noch das Erbe eines entlasteten Daseins verwaltet und repräsentiert. Vor einiger Zeit hörte ich einen Japaner nicht ohne Ironie davon sprechen, wie zahlreiche Missionare ihren alljährlichen Urlaub im hübschen Karuizawa in der Mitte der japanischen Insel verbringen und dann jeweils, wieder mit "frischen Kräften" zurückkommen und ihre Arbeit beginnen. Die ironische Spitze richtet sich dabei nicht gegen die Tatsache, daß die Missionare Urlaub machen, sondern dagegen, daß sie dort gerade in ihrer "geistlichen Zurüstung" versuchen, alle jene im Laufe eines Arbeitsjahres abgebauten und verschlissenen Positionen des "Missionars", der den Heiden "etwas zu bringen hat", wieder aufzubauen. Der Japaner sagte: Sie haben nun aufgetankt! So kommen sie mit wieder neu gewonnenem "Sendungsbewußtsein" zurück in ihre Gemeinde, die ihre Hoffnung, der Missionar werde doch wohl einmal zu normaler, kooperativer Arbeit fähig werden, still begraben. Wäre der Missionar doch nicht ganz so "wiederhergestellt" aus dem Urlaub gekommen, er hätte, um mit Pfarrer Murakami zu sprechen, vor der Notwendigkeit gestanden, die fremde Stadt "seine Stadt" zu nennen und Christus darin zu entdecken.

Der Kreis der den Monbacher Gesprächen folgenden Reflexionen hat sich geschlossen. Der mitten in der Diskussion gewagte Versuch zu einer "Erklärung" des gegenwärtigen weltgeschichtlichen Versagens der abendländischen Gesellschaft und, in ihr, der Christenheit, sollte vielleicht solange stehen bleiben, bis die Antwort in einer "geschichtlichen Umkehr" gegeben worden ist. Dann mag sich alles, was wir getan haben, nachträglich wieder in die Relationen geschichtlicher Vorgänge einfügen und einfügen lassen, auch,unsere "Umkehr", unsere "Buße", die uns abverlangt wird durch das Evangelium von dem "Christus in unserer Stadt", einem Evangelium, dessen gegenwärtiger Kontext in jener Klausurtagung so deutlich erkennbar geworden ist.



Anmerkungen

1) So S. 20ff, bes. S. 23

2) s. S. 42

3) s. S. 36 ff

4) Zur Abraham•lnterpretatlon bel Hegel vgl. die ausführliche Darstellung bei W. O. Marsch, Gegenwart Christi in der Gesellachaft. Studien zu Hegels Dialektik, Chr. Kaiser, 1955, S. 79. Hegel trifft mit seiner Abraham-Interpretation, wie wir heute aehen, sicher nicht das biblische Abrahambild, wie es uns vor allem in der jahwlstischen Tradition überliefert ist. Aber er trifft ein die Geschichte Israels immer wieder bestimmendes historisches Phänomen, das sich vielleicht in der Gestalt und in der Herrschaft Salomos am stärksten ausgeprägt hat. Vieles spricht dafür, daß der Jahwist sein Erzählwerk gerade in Opposition zu dem geistigen Anspruch des Salomonischen Reiches geschrieben hat. Er ist es, der gegenüber der Herrlichkeit eines entlasteten Daseins, die Belastungen in den Blick brlngt, die von Anfang an die Geschichte der Menschhelt und im Besonderen die Geschichte der „Erwählten“ beschwerenl

5) Vgl. Anm. 4

6) Vgl. zum Folgenden Elisabeth Gössmann, Religiöse Herkunft, profane Zukunft? Das Christentum in Japan, München 1985.

7) Vgl. hierzu auch Chie Nakane, Entdeckung der japanischen Gesellschaftstruktur, Chuo Koron, August 1964. Deutsch in: Kagami, Japanischer Zeitschriftenspiegel, III. Band, 2. Heft, 1965.

8) Vgl. Kazoh Kltamorl, Theology of the Pain of God. John Knox Press, Richmond, Virginia 1985. (Erschelnt demnächst auch in deutscher Sprache.)