Die deutsche Vereinigung

Podiumsdiskussion  am 4.2.2015
Integrartion geteilter Gesellschaften
Mit freundlicher Erlaubnis vom Korea-Verband
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Die deutsche Vereinigung als dominanzkultureller Prozess. Ausgangsposition - Entwicklungen - Perspektiven.
Ingrid Miethe


Auf einer strukturellen Ebene kann die deutsche Vereinigung ohne Zweifel als eine Erfolgsgeschichte angesehen werden. Auch wenn es nach wie vor ein ökonomisches Gefälle zwischen Ost und West gibt, haben sich die Lebensverhältnisse weitestgehend angeglichen, die Wirtschaft Deutschland ist stabil, wie auch die Demokratie im vereinigten Deutschland auf festen Füßen steht. Was allerdings nach wie vor umstritten ist, ist die Frage der ‚inneren‘ Einheit. Immer wieder zeigen Umfragen, dass bei vielen Fragen nach wie vor ein Ost-West-Gefälle auszumachen ist und die deutsche Vereinigung wird von vielen Menschen nach wie vor auch eher skeptisch gesehen.

Warum halten sich diese Unterschiede über so lange Zeit? Wo können Ursachen dafür gesehen werden und was bedeuten diese Differenzen? Ich möchte zur Beantwortung dieser Fragen Thesen vorstellen.


These 1: Die Unterschiede zwischen Ost und West resultieren nicht mehr primär aus unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen, sondern sind mindestens genauso stark durch die Erfahrungen der Wende und des Vereinigungsprozesses geprägt.

Immer wieder findet man in der wissenschaftlichen Literatur das Erklärungsmuster, dass die nach wie vor bestehenden Unterschiede zwischen Ost und West auf die Spezifik der DDR-Sozialisation zurückzuführen seien. Herangezogen werden hier immer wieder eine kollektive Erziehung, Unerfahrenheit mit demokratischen Strukturen und damit verbunden gewisse bis heute anhaltente totalitäre Prägungen. Solche Erklärungsmuster spiegeln eher die westdeutschen Klischees gegenüber ostdeutscher Lebensrealität, als dass damit die unterschiedlichen Positionen erklärt werden könnten. 25 Jahre nach der deutschen Vereinigung ist es an der Zeit derartige Stereotype zu überwinden. Die Unterschiede lassen sich auch teilweise noch in der jungen Generation feststellen, d.h. einer Generation, die überhaupt nicht mehr in der DDR sozialisiert wurde. Die Gründung der Initiative „Dritte Generation Ost“, die einen Zusammenschluss von Personen darstellt, die zur Zeit der Wende noch Kinder waren, zeigt recht einprägsam, dass selbst diese Generation das Bedürfnis danach hat, sich der eigenen Herkunft und Prägung zu vergewissern.

Mindestens genauso prägend wie die Erfahrungen in der DDR waren für die Ostdeutschen die Erfahrungen der Wendezeit und der anschließenden deutschen Vereinigung. Die Wende wurde von den Ostdeutschen sehr unterschiedlich erlebt. Für die einen war es eine Befreiung aus einem diktatorischen System. Für andere war es das Ende eines Staates, mit dem sie zutiefst identifiziert waren und dessen Zusammenbruch die eigenen Lebensentwürfe und Glaubensvorstellungen zum Zusammenbruch brachte. Wie auch immer diese Zeit erlebt wurde – sie war biografisch zutiefst prägend. Den Zusammenbruch eines politischen und ökonomischen Systems erlebt zu haben, ist eine Lebenserfahrung, die Westdeutsche nicht im selben Maße erlebt haben und aus der spezifische Betrachtungsweisen resultieren.

Genauso prägend waren die Erfahrungen im Prozess der deutschen Vereinigung. Dieser Prozess erforderte von nahezu jedem eine radikale biografische und berufliche Neuorientierung. Dafür, wie erfolgreich dieser Neuorientierungsprozess sein konnte, war das Alter zum Zeitpunkt der Wende sehr wesentlich. Gerade die mittleren Jahrgänge, also diejenigen, die zu alt waren um noch einmal völlig von vorn anzufangen und die zu jung waren um eine Form der Übergansregelungen für den Ruhestand in Anspruch zu nehmen, war es besonders schwer neu Fuß zu fassen. Viele – vielleicht zu viele – sind in diesem Prozess ‚auf der Strecke‘ geblieben. Nicht weil sie politisch zu involviert gewesen wären oder fachlich nicht kompetent, sondern einfach ‚zu alt‘ für die Logik einer kapitalistischen Marktwirtschaft. Aber unabhängig davon, wie erfolgreich die Einmündung in das bundesrepublikanische System gelang, war der Prozess der Vereinigung ein dominanzkulturell geprägter. Damit komme ich zur zweiten These.


These 2: Der Prozess der deutschen Vereinigung war von vornherein durch ein asymmetrisches Machtverhältnis gekennzeichnet, das zur Etablierung einer Dominanzkultur führte. Diese Dominanzkultur erschwert auf der ostdeutschen Seite die Akzeptanz gesamtdeutscher Normen.

Der Vereinigungsprozess zwischen Ost- und Westdeutschland war von vornherein durch ein asymmetrisches Machtverhältnis gekennzeichnet. Die Vereinigung war ein einseitiger Anschluss Ost an West. Es wurden alle westdeutschen Regelungen relativ unreflektiert auf Ostdeutschland übertragen. Der deutsche Vereinigungsprozess wurde somit nicht dazu genutzt, gerade Regelungen, die auch in Westdeutschland seit Jahrzehnten kritisch diskutiert wurden (z.B. Schulsystem), insgesamt einer Reform zu unterziehen. Dieser einseitige Anpassungsprozess Ost an West betraf ausnahmslos alle Lebensbereiche. Damit wurde über Nacht auch ostdeutsche Lebenserfahrung entwertet. Viele Schul- und Studienabschlüsse konnten nicht mehr genutzt werden und Berufserfahrungen wurden obsolet. Die neuen Eliten rekrutierten sich vor allem aus Westdeutschen. Die Zahl Ostdeutscher in Leitungspositionen des Staates und der Gesellschaft ist bis heute marginal. Vor allem aber wurde dieser Vereinigungsprozess auch von einem öffentlichen Klima der Abwertung ostdeutscher Lebenserfahrungen begleitet. Dieses Bild wurde vor allem durch die Medien transportiert (vgl. Abhe u.a. 2009) Wie eine Studie dazu aufzeigt, erschienen die Ostdeutschen in den Medien immer als ‚die Anderen‘, aber keinesfalls als Gleiche. (Wedl 2009:130).

Das, was nach 1989 zwischen Ost- und Westdeutschland stattfand, kann mit dem Konzept der Dominanzkultur (Rommelspacher 1995) gefasst werden. Dominanzkultur bedeutet, so Birgit Rommelspacher, dass „unsere ganze Lebensweise, unsere Selbstinterpretation, sowie die Bilder, die wir von anderen entwerfen, in Kategorien der Über- und Unterordnung gefasst sind.“ Kultur wird dabei in einem umfassenden Sinn verstanden „als Ensemble gemeinsam geteilter Bedeutungen, in denen die aktuelle Verfasstheit der Gesellschaft, insbesondere ihrer ökonomischen und politischen Strukturen, und ihre Geschichte zum Ausdruck kommen. Sie bestimmt das Verhalten, die Einstellung und Gefühle aller, die in dieser Gesellschaft leben.“ Und diese Kultur, so Rommelpacher weiter, „ist in der westlichen Gesellschaft vor allem durch die verschiedenen Traditionen von Herrschaft“ und damit verbunden von Über- und Unterordnung geprägt. Diese Machtverhältnisse der Gesellschaft haben sich eingeschrieben in das Denken und in die Gefühle, in das Unbewusste wie die Verhaltensvorschriften. Im Unterschied zu Herrschaft, so Rommelspacher, die in erster Linie auf Repressionen, auf Geboten und Verboten beruht, kann sich Dominanz auf weitgehende Zustimmung stützen. Dies ist möglich, da sie über die sozialen Strukturen und die internalisierten Normen der Menschen in eher unauffälliger Weise politische, soziale und ökonomische Hierarchien reproduziert.

Im Prozess der deutschen Vereinigung geht es von daher zwischen Ost und West nicht nur um Verschiedenheit (horizontale Ebene), sondern immer auch um ein Machtgefälle (vertikale Ebene.) Die Thematisierung dieser vertikalen Ebene stört den gesellschaftlichen Konsens, der um Nivellierung dieser Differenzen bemüht ist und Thematisierung derselben negativ sanktioniert. Folge ist das Schweigen auf Seiten der Nicht-Dominanten. DDR-Geschichte und -Erfahrung landet somit an den privaten Küchentischen und wird nicht (mehr) gesellschaftlich diskutiert.

Doch warum hat sich diese Dominanzkultur so gut etablieren lassen?


These 3: Das Machtgefälle im deutschen Vereinigungsprozess basierte nicht nur auf dem massiven ökonomischen Gefälle zwischen Ost und West, sondern ist auch stark geprägt durch die Bilder des Kalten Krieges.

Als Ost- und Westdeutschland sich vereinigten, lagen 40 Jahre getrennter Geschichte hinter beiden Ländern. Die Bilder des jeweils anderen waren nicht neutral, sondern geprägt von den Feindbildern des Kalten Krieges und den jeweiligen Abwertungen. Damit verbunden war ein polares Denken: Demokratie hier – Diktatur dort. Reale Kenntnisse über das jeweils andere Deutschland gab es kaum. Im Prozess der Vereinigung dominierten zunächst auch die Bilder des Kalten Krieges, die eine differenzierte Wahrnehmung ostdeutscher Lebensrealität und auch des ostdeutschen Systems nahezu verunmöglichten. So stellt auch eine Studie zur Medienanalyse fest, „dass die aus der Zeit der deutschen Spaltung stammende Identitätskonkurrenz nicht allmählich eingeebnet, sondern (…) reproduziert wird.“ (Ahbe 2009: S. 110).

In der Logik des Kalten Krieges konnte es per definitionem in einer Diktatur keine Institutionen geben, die es wert waren bewahrt zu werden bzw. die sogar einen Fortschritt für das demokratische Westdeutschland hätten darstellen können. Entsprechend wurde auch keinerlei Mühe unternommen kritisch zu prüfen, ob Ansätze aus der DDR in das Gesamtdeutschland hätten übernommen werden können. Solche Ansätze hätte es durchaus gegeben: z.B. die Organisation des Gesundheitswesens oder das nicht gegliederte Schulsystem.

Auch wurde die ostdeutsche Bevölkerung mit dem Staat gleich gesetzt. Der Staat war diktatorisch und geheimdienstlich organisiert, also waren auch die Menschen diktatorisch geprägt und ‚arbeiteten alle für den Staatssicherheitsdienst‘. Es dauerte lange Zeit und brauchte viele reale Begegnungen um diese Bilder ansatzweise aus den Köpfen zu verdrängen. Aus den Schulbüchern und Gedenkstätten wird dieses Bild bis heute fortgeschrieben und prägt damit auch in einseitiger Weise den Blick der jungen ostdeutschen Generation auf die DDR und ihre Eltern.

Menschen sind jedoch nicht gleich Staat, sondern finden auch in diktatorischen Systemen Spielräume, die eigeninitiativ genutzt werden. Für die Akzeptanz eines Vereinigungsprozesses ist es enorm wichtig, genau diese Vielschichtigkeit, auch einer diktatorisch geprägten Gesellschaft, wahrzunehmen und ernst zu nehmen.

Bei aller hier geäußerten Kritik am deutschen Vereinigungsprozess halte ich persönlich diesen insgesamt für gelungen. Nimmt man die ökonomische und politische Ausgangsposition in den Blick, ist es geradezu phänomenal, welche Leitung in den letzten 25 Jahren vollbracht wurde. Einzig der kulturelle und mentale Aspekt wurde und wird in seiner Bedeutung radikal unterschätzt. Ein ‚innere‘ Einheit setzt eine Kommunikation ‚auf Augenhöhe‘ voraus. Diese ist nur möglich, wenn die reale vertikale Hierarchie zwischen Ost und West benannt und berücksichtigt wird. Die ‚innere Einheit‘ erfordert auch eine Vergangenheitsaufarbeitung, die beide Teile Deutschlands betrifft und nicht nur die ostdeutsche Seite. Und sie erfordert den Abschied von den Bildern und Stereotypen des Kalten Krieges.


Literatur:

Ahbe, Thomas/ Gries, Rainer/ Schmale, Wolfgang (Hrsg.) (2009) Die Ostdeutschen in den Medien. Das Bild von den Anderen nach 1990. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag.

Ahbe, Thomas (2009) Die Ost-Diskurse als Strukturen der Nobilitierung und Marginalisierung von Wissen. Eine Diskursanalyse zur Konstruktion der Ostdeutschen in den westdeutschen Medien-Diskursen 1989/90 und 1995. In: Ahbe, Thomas/ Gries, Rainer/ Schmale, Wolfgang (Hrsg.) (2009) Die Ostdeutschen in den Medien. Das Bild von den Anderen nach 1990. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, S. 59-112.

Rommelspacher, Birgit (1998): Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin: Orlanda.

Rommelspacher, Birgit (2002) Anerkennung und Ausgrenzung. Deutschland als multikulturelle Gesellschaft. Frankfurt/ New York: Campus.

Wedl, Julia (2009) Ein Ossi ist ein Ossi ist ein Ossi… Regeln der medialen Berichtserstattung über ‚Ossis‘ und ‚Wessis‘ in der Wochenzeitung Die Zeit seit Mitte der 1990er Jahre. In: Ahbe, Thomas/ Gries, Rainer/ Schmale, Wolfgang (Hrsg.) (2009) Die Ostdeutschen in den Medien. Das Bild von den Anderen nach 1990. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, S. 135-1