2011: Minamata - Technologien außer Kontrolle

Umweltzerstörungen
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Technologien außer Kontrolle: Die Konstruktion neuer Lebensentwürfe nach einer Katastrophe

von Jakob Wetzel

Eine kurze Zusammenfassung eines Forschungsaufenthaltes in Minamata auf Kyushu, Japan  

Mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers

Was bedeutet eigentlich Restrisiko? Grundsätzlich meint es die Gefahr, die ein bestehendes System trotz vorhandener Sicherheitsvorkehrungen noch in sich trägt. Seit dem Erdbeben vom 11. März 2011 in Nordostjapan ist das bekannteste Beispiel hierfür das Risiko der Kernschmelze eines Atomkraftwerks. In Deutschland existiert zudem ein gerichtlicher Grundsatzentscheid, wonach derartige hypothetische Risiken, deren genaue Auftrittswahrscheinlichkeit unbekannt, aber nicht gänzlich auszuschließen ist, als sozialadäquate Last von allen Bürgern zu tragen seien, da andernfalls die Grenzen menschlichen Erkenntnissvermögens verkannt würden und jede staatliche Zulassung der Nutzung von Technik verbannt werden müsste. (BverfG, Beschluss vom 8.8.1978)

Vereinfacht gesagt ist das Restrisiko also die potenzielle Gefahr jeder menschlichen Technologie Auswirkungen zu entfalten, die nicht vorhersehbar sind, sich aber als schädlich erweisen können. Mathematisch bzw. ökonomisch lässt sich dieses Risiko mit einer Wahrscheinlichkeit bzw. einem Wert versehen und kann dann in andere Kostenpunkte einer Unternehmung eingereiht werden.

Wie sieht es aber konkret aus, wenn der unwahrscheinliche Fall tatsächlich eintritt und es zur Katastrophe kommt? Ist es dann tatsächlich die Gesellschaft aller Bürger, wie es obiger Gesetzestext nahelegt, welche die Lasten trägt?

Im vorliegenden Aufsatz möchte ich von einem Fallbeispiel berichten, welches in Japan noch immer präsent und allgemein bekannt, darüber hinaus jedoch weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Von Mitte der 60er bis in die späten 90er Jahre wurde das Städtchen Minamata im Süden Japans Schauplatz einer der schlimmsten Verschmutzungen des Meeres durch chemische Abwässer. Das von dem lokalen Chemiekonzern Chisso ins Meer abgeleitete organische Quecksilber kehrte über die Meeresbewohner in den Nahrungskreislauf der Menschen zurück und führte so zu einer Vergiftung Zehn- oder sogar Hunderttausender. Die dadurch ausgelöste unheilbare Nervenkrankheit wurde unter dem Namen Minamata-Krankheit bekannt und findet sich heute sogar in deutschsprachigen Medizinlexika. (Spektrum Verlag 1994)

Der Atomunfall von Fukushima hat uns erneut vor Augen geführt, welch weitreichende und vernichtende Wirkung menschliche Technologien entfalten können, wenn sie außer Kontrolle geraten. Es handelt sich dabei jedoch nicht um Probleme, die einfach mit der Beseitigung der Schadensquelle und der Zahlung von Kompensationen aus der Welt geschafft werden können. Katatstrophen vom Ausmaß Minamatas oder Fukushimas haben tiefgreifende und langfristige Auswirkungen. Leidtragende sind vor allem die Menschen vor Ort, die meistens gewissermaßen zufällig in der Nähe des Geschehens lebten und von der vollen Wucht der Folgen getroffen werden. Die Auswirkungen konzentrieren sich somit zum großen Teil auf einen kleinen Raum und es kann nicht wirklich von einer Verteilung der Last auf alle Bürger gesprochen werden. Die Verantwortung der übrigen, davongekommenen Bürger sollte es daher zumindest sein, sich mit den Geschehnissen auseinanderzusetzen und daraus zu lernen. Erst wenn man die Situation der Menschen vor Ort nachvollziehen kann und versteht, was es bedeutet, Opfer eines Restrisikos zu sein, wird sich vielleicht auch etwas an der eigenen Einstellung und Lebensweise ändern.

Ein solches Verständnis lässt sich am besten herstellen, indem man durch einen Blick über die Schulter der lokalen Akteure ein Gefühl für die Situation entwickelt. Im Folgenden möchte ich drei Individuen vorstellen, die in Minamata leben und den Geschehnissen der Vergangenheit höchst unterschiedlich gegenüber stehen. Ich hoffe auf diese Weise, dem Leser eine Perspektive zu eröffnen, die über das Empfinden von Mitleid hinaus geht und zum Weiterdenken anregt. Denn Minamata ist mitnichten ein düsterer Ort, an dem sich die geächteten und vergessenen Opfer zusammendrängen. Vielmehr konnte ich selbst bei meinem Aufenthalt einen Eindruck von dem Tatendrang und der optimistischen Einstellung vieler Bewohner gewinnen. Eine Katastrophe, deren Ursprünge letztlich auf menschliches Handeln zurückzuführen sind, birgt immer auch das Potenzial einer kritischen Revision des bisherigen Lebensstils und es entstehen unter Umständen in der Folgezeit kreative Ansätze, die auch über das direkte Umfeld hinaus als Anregung dienen können.[1]

Teil 1. Minamata und die Verseuchung der Shiranui-See
Teil 2.1. Yoshikawa Kenji4: Der Anbau ökologischer Feldfrüchte
             und Einsatz für die Belange der Opfer
Teil 2.2. Kumata Ryôtarô: Die Nutzbarmachung von
            Abfallprodukten
Teil 2.3. Miwa Ikuo: Die Verantwortung der
            Bergspitzenbewohner

3. Zusammenfassung

Am Anfang bin ich bereits darauf zu sprechen gekommen, dass der Umgang mit Bedrohungen durch menschliche Technologien auch heute eine unveränderte, vielleicht sogar noch größere Aktualität besitzt, als vor 50 Jahren beim Ausbruch der Minamata-Byô. Vielfältige Beispiel lassen sich dafür finden, die in den meisten Fällen weit weniger Aufmerksamkeit erregen, als die extreme Situation, die sich seit März 2011 im Nordosten Japans abspielt.

Ui Jun, ein japanischer Umweltforscher, der sich als einer der ersten in Japan ausführlich der Aufarbeitung und Sichtbarmachung der Geschehnisse von Minamata widmete, erklärte zum Abschluss seines umfassendes Werkes zur Umweltverschmutzung in Japan:

Environmental destruction does not allow for recovery - it causes irreversible damage. This damage is absolute in that it cannot be redeemed through the payment of money, for loss of environmental viability results in a negation of the total universe of interactions attendant upon human health and life. () An example of this is the fact that for thousands of the Minamata disease victims their illness is incurable. Therefore a careful examination of the situation in all of its historical ramifications is essential in order that these mistakes are not repeated elsewhere in the world. (Ui 1992: o.S.)

Er stellte bei seinen Untersuchungen fest, dass die Gelder, welche in die vorausschauende Forschung und Reduktion von Umweltrisiken investiert werden, häufig extrem niedrig ausfallen, und damit im krassen Gegensatz zu den später anfallenden Kosten stünden. So wurden von der Firma Chisso insgesamt nur etwa 1,5 Millionen Yen (rund 13.000 Euro) in die Behandlung der quecksilberhaltigen Abwässer investiert. Dagegen verschlangen die Entschädigungszahlungen an die Opfer im Nachhinein mehrere hundert Millionen Yen. (Ebd.)

Immer wieder tragen technische Neuerungen dazu bei, dass verschiedene Aspekte des Lebens einfacher, günstiger oder effizienter werden. Die Gesamtgesellschaft profitiert von den Neuerungen und scheint sich daher auf dem Fortschritt zu befinden. Häufig werden diese Technologien jedoch von Risiken begleitet, die am Ende nur von einer kleinen Gruppe getragen werden. Es stellt sich die Frage, ob bei unserer gegenwärtigen Lebensweise mit ihrer Forderung nach ständigem technischem Fortschritt und voranschreitendem materiellem Wohlstand tatsächlich eine gleichmäßige Verteilung der zu Beginn erwähnten sozialadäquaten Last stattfindet.

Die vorgestellten Ansätze aus Minamata liefern hierzu einige Anregungen. Sie zeigen die Notwendigkeit auf, einige Grundannahmen unserer Lebensweise kritisch zu hinterfragen, ohne diese vollständig abzulehnen bzw. sich auf eine Beschwörung der guten alten Zeit zu begrenzen. Damit es jedoch tatsächlich zu einer Veränderung kommen kann, müssen sich möglichst viele Menschen dieser Problematik bewusst werden und darüber nachdenken, wie sie selbst einen Beitrag leisten können.

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