Werning: Dosierte Repression - 2016

Südkorea <> Nordkorea
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Dosierte Repression

Südkorea: 30 Jahre nach dem Beginn der landesweiten Demokratie-Bewegung möchte Präsidentin Park Geun-Hye, Tochter des langjährigen Militärdiktators Park Chung-Hee, Reformen aushebeln und vor allem die (Familien-)Geschichte umdeuten
Von Rainer Werning

In heißen Sommermonaten flanieren Touristen in farbenfroher Designerkleidung und mit neuesten Camcordern über den Gwanghwamun-Platz in Seoul. Es ist dies normalhin ein Teil jener Idylle, für die die Koreanische Fremdenverkehrszentrale mit dem Slogan wirbt: „In Korea findet man vielfältiges Essen und eine faszinierende traditionelle Kultur. Doch auch moderne Kultur, wie Popmusik, Filme und Shoppen, finden Anklang bei Touristen. Lassen auch Sie sich von Korea verzaubern!“

Doch ausgerechnet auf diesem Platz bunter und ausgelassener Stimmung fuhren am späten Nachmittag des 14. November 2015 vergitterte Polizeibusse und einsatzbereite Wasserwerfer auf. Der Sprühflüssigkeit der Wasserkanonen wurde Capsaicin als Reizstoff beigemischt, das zur Schwellung der Schleimhäute und zum sofortigen Schließen der Augenlider für mehrere Minuten führen kann. Ein harter Kern von Demonstranten war nicht nur mit Regenmänteln und Atemschutzmasken präsent, sondern auch mit Bambus- oder Metallstöcken und Steinen unterwegs. Die hochgepeitschten Emotionen erinnerten an alltägliche Szenen aus den Jahren 1986 und 1987, dem Beginn der landesweiten Demokratie-Bewegung, als es häufig zu gewalttätigen Knüppelorgien einer verunsicherten Staatsmacht gegen aufbegehrende Bürger gekommen war.

Martialisches Polizeiaufgebot
Baek Nam-Gi, ein Bauer aus der Provinz Süd-Jolla, wird von anderen Demonstranten verletzt aus der Menschenmenge herausgetragen. Kurz zuvor war der 69-Jährige durch einen gezielten Strahl eines Wasserwerfers auf dem Gwanghwamun-Platz zu Boden geschleudert und bewusstlos ins Krankenhaus eingeliefert worden. Normalerweise sehen die Richtlinien für die südkoreanische Polizei vor, dass beim Einsatz von Wasserkanonen je nach Eskalation von Auseinandersetzungen ein dreistufiger Einsatz gilt: Erst ein Sprüheinsatz, dann ein Steilfeuerstrahl und schließlich die direkte Wasserstrahlzielung auf den unteren Körperbereich von Personen. An jenem Novembertag aber zielten die Polizisten laut Augenzeugen unter Missachtung der Phasen 1 und 2 bewusst auf den Kopf von Baek, selbst als dieser schon am Boden lag. Beherzte Helfer erlebten, dass sie ihrerseits gezielt von Wasserwerfern ins Visier genommen wurden.

In- wie ausländische Medien berichteten über diesen martialischen Großeinsatz der südkoreanischen Sicherheitskräfte, um etwa 130.000 Demonstranten in Schach zu halten. Seit 2008 hatte die südkoreanische Metropole Seoul keine solch starke Anti-Regierungs-Bewegung auf den Straßen erlebt. Während damals mehrheitlich Bauern gegen die Wiederaufnahme von Rindfleischimporten aus den USA auf die Barrikaden gingen, hatten diesmal Gewerkschaften, Arbeiter-, Bauern- und Lehrerverbände sowie zivilgesellschaftliche Vereinigungen gegen die ihrer Meinung nach selbstherrliche Politik der konservativen Regierung unter Präsidentin Park Geun-Hye (siehe nebenstehenden Text) Front gemacht. Im Vordergrund ihrer Proteste stand dabei die Kritik an zunehmend unternehmerfreundlicher Politik, an dem gemeinsamen US-südkoreanischen Militäroperationsplan (OPLAN) 5015, der eine Präventivschlagstrategie gegen Nordkorea vorsieht, am Freihandelsabkommen mit China, an politischer Einschüchterung und Gängelung sowie an der autoritär verfügten Entscheidung, die Geschichtsbücher für den Mittel- und Oberstufenunterricht umzuschreiben und ab Frühjahr 2017 ein einheitliches „korrektes Geschichtslehrbuch“ in den Schulen einzuführen. Frei nach dem Motto: Keinen Schritt vorwärts, 30 Jahre zurück!

Gewerkschafter als „Staatsfeinde“
Die Polizei blieb bei ihrem Versuch erfolglos, den Präsidenten des militanten Gewerkschaftsdachverbands Korean Confederation of Trade Unions (KCTU), Han Sang-Gyun, festzunehmen. Als Initiatoren unerwünschter und ungenehmigter Proteste hatten Han und seine Mitstreiter es mehrfach geschafft, die Regierung mit kritischen Aktionen herauszufordern und die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich in der Gesellschaft anzuprangern. Polizisten in Zivil versuchten, Han zu ergreifen. Er fand jedoch Schutz in einem nahegelegenen Gebäude, um kurz darauf wieder mitten in der Menge aufzutauchen und zum Marsch auf das Blaue Haus, dem Amtssitz der Präsidentin, aufzurufen. Danach fand der Gesuchte drei Wochen lang Unterschlupf in einem buddhistischen Tempel im Stadtzentrum von Seoul, bevor er sich nach weiteren Großkundgebungen gegen die Regierung und Razzien gegen Büros der KCTU der Polizei stellte. Han wird vorgeworfen, gewalttätige Proteste angezettelt zu haben. Er wollte lediglich verhindern, so Han bei seiner Verhaftung am 5. Dezember 2015, dass der Kündigungsschutz aufgeweicht werde: „Für die Mächtigen bin ich deshalb der Staatsfeind Nummer eins.“ Dem Gewerkschafter droht eine mehrjährige Haftstrafe. „So etwas hat es in Südkorea seit dem Ende der Diktatur nicht mehr gegeben“, schrieb Sung Ilkwon in Le Monde diplomatique (7.1.2016), „während die Präsidentin mit aller Härte gegen politische Gegner vorgeht, verhält sie sich gegenüber den Konzernbossen, die notorisch und im großen Stil Steuern hinterziehen, auffallend nachsichtig.“

Die KCTU steht in der Tradition der Arbeiterkämpfe gegen die Militärdiktatur von Park Chung-Hee (1961-79), dem Vater der Präsidentin, und hat heute etwa 700.000 Mitglieder. Immer wieder gelingt es der KCTU, Zehntausende Menschen zu Protestdemonstrationen zu mobilisieren und die schleichende Aufweichung von Arbeits- und Bürgerrechten anzuprangern. Dabei kommt es regelmäßig zu Übergriffen seitens spezieller Greiftrupps und Eliteeinheiten der Polizei. Der KCTU ist auch ein Dorn im Auge, dass die Regierung immer mehr befristeten Arbeitsverträgen mit geringerer Entlohnung und weniger Sozialleistungen zustimmt. Während die Regierung behauptet, auf diese Weise mehr Anreize für Neueinstellungen zu schaffen und international wettbewerbsfähig zu bleiben, geht die KCTU davon aus, dass immer unverhohlener junge Arbeitssuchende und Stammbelegschaften bewusst gegeneinander ausgespielt werden und die Zahl prekär Beschäftigter rapide wächst. Die Regierung schreckt auch nicht davor zurück, „illegal“ Streikende drakonisch abzustrafen – sei es mit hohen Haftstrafen oder – wie im Jahre 2009 beim Automobilhersteller Ssang Yong Motors – mit Schadensersatzforderungen in Höhe von umgerechnet etwa drei Millionen Euro.

Aus den Büchern, aus dem Sinn?
Vor allem das Ansinnen der Regierung, die landesweit in Schulen benutzten Geschichtsbücher einer „kritischen“ Prüfung zu unterziehen und vehement daraufhin zu arbeiten, bis Ende dieses Jahres „Alternativen“ zu entwickeln und bereits im Frühjahr 2017 lediglich ein staatlich verordnetes Lehrbuch für Geschichte im Unterricht einzusetzen, führte zu einem Sturm der Entrüstung. Für zusätzliche Kritik sorgt zudem die neue staatliche Verordnung, wonach bei künftigen Prüfungen Geschichte als ein obligatorisches Fach eingestuft wird.

Im konfuzianisch geprägten Korea sind Bildung, Prestige, Titel und Namen von herausragender Bedeutung. Und als Gralshüter der Bildung gelten zuvörderst die Eliteuniversitäten – allen voran die Seoul National Universtity (SNU). Dass die SNU ihrer Rolle als kritischer Spender einer Denkschrift gerecht wurde, unterstreicht, wie aufgewühlt die Debatte über den Demokratisierungsprozess in Südkorea und die Zukunft des Landes geführt wird. Am 2. September 2015 ließ es sich Professor Oh Soo-Chang nicht nehmen, seine fundiert-kritischen Positionen dem Bildungsminister zeitgleich mit 34 weiteren Unterschriften von SNU-Kollegen einzureichen. Eine Zustellung auf dem normalen Postweg wäre zu profan gewesen, so dass man sich stattdessen dazu entschloss, die Denkschrift vor dem Zentralen Regierungskomplex live zu verlesen.

In dem Dokument mit dem zurückhaltenden Titel: „Eine Meinung für den Bildungsminister Hwang Woo-Yea“ heißt es: „Eine Politik der Bestimmung eines einheitlichen Geschichtsbuches wurde weitgehend von der gegenwärtigen Administration unter der Regierungspartei vorangetrieben (...) Solch eine Debatte unter den Politikern steht nicht im Einklang mit dem Gedanken der Verfassung, welche die Unabhängigkeit, die Sachkunde und die politische Neutralität in der Bildung vorsieht (...) Sollte die Park Geun-Hye-Regierung ein einheitliches, staatlich erstelltes Geschichtsbuch herausgeben, werden wir eine groß angelegte Kampagne des zivilen Ungehorsams starten, um die Werte und die Ehre einer demokratischen Republik zu erhalten. (...) Sofern Studenten landesweit mit einem einheitlichen staatlich beeinflussten Geschichtsbuch unterrichtet werden, mindert dies ernsthaft die geschichtliche Vorstellungsgabe sowie die kreativen kulturellen Befähigungen unserer Gesellschaft und es erzeugt Hindernisse auf dem Weg zu Demokratie und wirtschaftlicher Entwicklung.“

Am 20.November 2015 meldete der öffentlich-rechtliche Sender KBS: „Die Katholische Bischofskonferenz Koreas hat die Regierung aufgefordert, die Einführung von unter staatlicher Regie verfassten Geschichtsschulbüchern aufzugeben und neue Diskussionen aufzunehmen. Trotz der stetigen Kritik seitens Historikern und Bürgern hätten die Regierung und die Regierungspartei das Vorhaben für die Einführung staatlich bestimmter Geschichtsschulbücher bekannt gegeben und trieben das Vorhaben eilig voran, hieß es in einer Erklärung des Komitees für Gerechtigkeit und Frieden der Bischofskonferenz. Regierung und Regierungspartei verübten einen ideologischen Angriff gegen Bürger, die sich gegen staatlich bestimmte Schulbücher aussprechen, und bezeichneten sie als Nordkorea-Anhänger oder Linke. Die Regierung, die nationale Eintracht herbeiführen sollte, sorge auf diese Weise für die Spaltung der öffentlichen Meinung, kritisierte das Komitee.“

Bis zu dem Zeitpunkt hatten bereits über 60.000 Südkoreaner eine Petition gegen den Regierungsplan unterschrieben. Darunter sind auch Hunderte Geschichtsprofessoren, die ankündigten, nicht als Autoren für die neuen Lehrwerke zur Verfügung zu stehen. Der Verband für moderne und zeitgenössische Geschichte Koreas, an dem über 500 Forscher beteiligt sind, sowie Geschichtsprofessoren der Sungkyunkwan, Chungang, Yonsei und der Busan Nationaluniversität bekräftigten diese Ablehnung. Einige der Professoren trugen Banner mit der Aufschrift. „Ein Land, das unterschiedliche Meinungen und Ideen unterdrückt, hat keine Zukunft” und „Die Regierung soll regieren und keine Textbücher verfassen!”

Markiger Geschichtsrevisionismus
Die längste Zeit war nach den jeweiligen Staatsgründungen der Republik Korea (Südkorea) und der Demokratischen Volksrepublik Korea (Nordkorea) im Jahre 1948 das Verfassen und die Herausgabe von Schulbüchern eine Domäne des Staates. Parks Vater, Park Chung-Hee, führte 1974 ein rigides Staatsmonopol ein. „Zwei Jahre zuvor“, schrieb Sung Ilkwon (Le Monde diplomatique, 7.1.2016), „hatte er bereits die ‚Yushin-Verfassung’ verabschiedet, die seine Alleinherrschaft festigte und die Befristung der präsidialen Amtszeit aufhob. Nach der ‚Erneuerung von 1972’, wie der propagandistische Name dafür lautete, dienten die Lehrbücher vor allem der Glorifizierung des Präsidenten. Nach dem Ende der Diktatur kehrte Südkorea zu einem pluralistischen System zurück und damit zu einer Vielfalt, die die Präsidentin nun wieder unterdrücken will. Ihr Vorgänger, Lee Myung-Bak, hatte bereits 2008 ein ‚alternatives Lehrwerk über die neue und neueste Geschichte Koreas’ in Auftrag gegeben, in dem unter anderem behauptet wurde, die japanische Besatzung habe die ‚Modernisierung Koreas’ erst ermöglicht, und den Familienkonzernen (Jaebols) verdanke man ‚die Industrialisierung des Landes’“.

Das 2002 unter der liberalen Kim Dae-Jung-Regierung eingeführte und noch gültige pluralistische System, wonach sich Verlage mit eigenen Geschichtsbüchern frei am offiziellen Zulassungs- und Prüfungsverfahren unter der Ägide des Bildungministeriums beziehungsweise des ihm untergeordneten Nationalen Instituts für Koreanische Geschichte (NIKH) beteiligen können, war zweifellos eine der Errungenschaften der vor drei Jahrzehnten machtvoll entfalteten Demokratiebewegung. Immerhin fiel dies in eine Zeit, die als Dekade der auf gegenseitigen Respekt und Austausch zwischen Nord- und Südkorea gerichteten „Sonnenscheinpolitik“ in die Annalen einging – initiiert von dem früheren Staatsfeind Nummer eins und Friedensnobelpreisträger Kim Dae-Jung (1998-2003) und seinem Nachfolger Roo Moh-Hyon (2003-2008). Danach verschärfte Seoul wieder auffällig seine Tonart gegenüber Pjöngjang und legitimiert seinen strammen Rechtskurs mit Verweis auf die „gefährliche und irrationale Politik“ der nordkoreanischen Führung.

Was darin gipfelte, dass das Verfassungsgericht Südkoreas am 19. Dezember 2014 die Auflösung der Vereinigten Progressiven Partei (UPP) erwirkte. Die Prinzipien und Aktivitäten der Partei seien mit der demokratischen Grundordnung Südkoreas unvereinbar, hieß es in der Begründung. Die fünf Abgeordneten der Partei verloren mit sofortiger Wirkung ihren Status als Parlamentsmitglieder. Die UPP, befanden die Richter, verfolge insgeheim das Ziel, in Südkorea einen Sozialismus nach nordkoreanischem Vorbild einzuführen. Die UPP-Parlamentarier hingegen beteuerten, man verfolge lediglich eine Politik der Aussöhnung mit dem Norden. Amnesty International kritisierte den Beschluss der Verfassungsrichter. Dieser, so warnte die Forschungsleiterin der Menschenrechtsorganisation für Ostasien, Roseann Rife, könne „abschreckende Folgen für die Meinungs- und Vereinigungsfreiheit“ haben. Auf der alljährlich von Reportern ohne Grenzen publizierten weltweiten Rangliste der Pressefreiheit sackte Südkorea 2015 von insgesamt 180 bewerteten Staaten auf Platz 70 ab. Im Jahre 2006 war das Land noch auf Platz 31 geführt.

Ebenfalls im Jahre 2014 waren vom Bildungsministerium insgesamt acht Schulbücher für den Geschichtsunterricht an Mittel- und Oberschulen des Landes zugelassen. Darunter war auch ein Lehrbuch der Kyohaksa Publishing Co., das die mittlerweile heftig entbrannte Kontroverse über die Inhalte und Bedeutung von Geschichtsbüchern an den Schulen zusätzlich befeuerte. In diesem inkriminierten Opus wurden sensible Eckdaten der Geschichte nahezu durchgängig im Sinne der Täter zurechtgebogen, beschönigt oder rundweg falsch dargeboten. Die bleierne Zeit der japanischen Kolonialherrschaft (1910–1945) wird schöngeredet und die von der Kaiserlich Japanischen Armee für Prostitutionszwecke zwangsrekrutierten Frauen und Mädchen sollen größtenteils einvernehmlich mit den Besatzern gehandelt haben. Südkoreas erster Präsident Rhee Syngman, ein von der US-amerikanischen Militärregierung eingesetzter und mit der Nachkriegsrealität nicht vertrauter Mann, wird als heldenhaft dem Norden trotzend porträtiert, während Park Chung-Hees Militärdiktatur als Schwungrad der wirtschaftlichen Entwicklung im Süden gilt.

„Anti-südkoreanisches Geschichtsbild“
Eine Crux an dem von der Kyohaksa Publishing Co. zirkulierten Werk war, dass es in den Schulen des Landes kaum nachgefragt wurde. Die rechtskonservativen Medien, allen voran die beiden Zeitungen Joongang Ilbo und Chosun Ilbo, hatten schnell den Sündenbock ausgemacht. Sie zogen deshalb kräftig vom Leder und machten „linke“ Kräfte dafür verantwortlich, Druck auf Lehrer, Eltern und Schüler auszuüben und alles daran zu setzen, um den Jugendlichen ein „anti-südkoreanisches Geschichtsbild“ einzutrichtern. Während die liberale Tageszeitung The Hankyoreh in ihrer Ausgabe vom 2.1.2014 das Kyohaksa-Textbuch schlichtweg als „Schande“ bezeichnete, gingen Parteimitglieder der Päsidentin in die Offensive und beklagten, dass leider die Geschichtsbücher der anderen sieben Verlage eine „negative Geschichtsauffassung“ vermittelten und es dringend geboten sei, staatlicherseits künftig ein einheitliches „korrektes Lehrbuch“ vorzulegen.

„Wenn man die Geschichte nicht korrekt lehrt, dann erkrankt der Verstand“, assistierte die Präsidenten ihren Parteikollegen auf der Sitzung des Ministerrats am 10. November 2015. Drei Wochen zuvor hatte Park im Parlament angekündigt, persönlich eine Kommission zu bilden, deren Mitglieder sie persönlich auswähle und damit betraue, dieses dann einzig autorisierte „korrekte Lehrbuch“ zu verfassen und ab Frühjahr 2017 zur Pflichtlektüre an Schulen zu machen. Es gehe ihr, so die Präsidentin, um eine „richtige Darstellung der Vergangenheit und die Korrektur der verzerrten, linksgerichteten Versionen, die Nordkorea glorifizieren und die Errungenschaften des Kapitalismus im Süden diskreditieren.“ Ferner äußerte Frau Park die Sorge, die gegenwärtigen Geschichtsbücher vermittelten den Jugendlichen falsche Werte und unterschätzten den Ernst und die Konsequenzen nordkoreanischer Provokationen. So sei die Schuld am Ausbruch des Koreakrieges in den anderen sieben Geschichtsbüchern nicht allein dem Norden angelastet worden.

Ob den Rechtskonservativen unter Führung von Präsidentin Park der Durchmarsch und letztlich die Deutungshoheit über die Geschichte gelingt, bleibt abzuwarten. Zumindest parlamentarisch musste die regierende Saenuri (Neue Welt)-Partei bei den letzten Wahlen im April eine Schlappe hinnehmen. Verfügte sie zuvor mit 157 Sitzen über die Mehrheit im 300-köpfigen Parlament, vermochten die beiden Oppositionsparteien, die Minjoo-Partei Koreas (MPK) und die Volkspartei, ihren Stimmenanteil auf 123 beziehungsweise 38 zu erhöhen, während Saenuri nurmehr 122 Sitze verbleiben. Gelänge es inner- wie außerparlamentarisch, zumindest die Schulbuch-Kontroverse doch noch im Sinne der Opposition zu führen, wäre das zumindest ein Teilerfolg.

Dr. Rainer Werning, Politikwissenschaftler & Publizist mit dem Schwerpunkt Ost- und Südostasien, schrieb zuletzt auf diesen Seiten am 7./8. Mai 2016 über den Präsidentschaftswahlkampf in den Philippinen.

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Das väterliche Erbe im Visier

Erstmalig in der Geschichte der von Männern dominierten Republik Korea (Südkorea) zog mit Park Geun-Hye am 25. Februar 2013 eine Frau ins Blaue Haus ein, dem Amtssitz des südkoreanischen Präsidenten. Die Präsidentschaftswahl hatte Frau Park am 19. Dezember 2012 für sich entscheiden können. Sie erhielt 51,6 Prozent der Stimmen, während ihr schärfster politischer Rivale Moon Jae-In, ein früherer Menschenrechtsanwalt und Kandidat der Vereinten Demokratischen Partei, auf 48 Prozent kam. Im April 2012 war Park Geun-Hye mit ihrer konservativen Partei Saenuri (Neue Welt) bereits aus der Parlamentswahl als Siegerin hervorgegangen.

Park Geun-Hye ist die älteste Tochter von Park Chung-Hee, der sich 1961 an die Macht geputscht und das Land bis 1979 diktatorisch regiert hatte. Er war im Oktober 1979 von seinem eigenen Geheimdienstchef ermordet worden. Sein Name ist bis heute im Bewußtsein vieler Südkoreaner mit der Transformation eines armen Agrarlandes in einen prosperierenden Industriestaat verbunden. Und bis heute wird er von zahlreichen Südkoreanern als „Architekt des Wirtschaftswunders am Han-Fluß" geschätzt. Von diesem Image ihres Vaters hatte die Tochter im Wahlkampf zweifellos profitiert. Vor allem viele ältere Menschen glaubten, dass sie am ehesten den erreichten Wohlstand sichern und einen weiteren wirtschaftlichen Aufschwung herbeiführen könnte. Für fortschrittliche und linke Kreise war und bleibt Park Chung-Hee ein ideeller Gesamtschurke. Sie werfen ihm vor, zwei Generationen von Arbeitern buchstäblich „verheizt" und jedwede Opposition drakonisch unterdrückt zu haben, um das „Wirtschaftswunder" zu vollbringen.

Park Geun-Hye goss Öl ins Feuer, als sie am 21. Februar 2012 nach jahrelanger Kontroverse eine Gedenkstätte zu Ehren ihres Vaters miteingeweiht hatte, in der dessen Leben und Vermächtnis wohlwollend zelebriert werden. Den Militärputsch von 1961, mit dem ihr Vater den Grundstein für seine bis 1979 währende diktatoriale Herrschaft gelegt hatte, bezeichnete die Tochter stets als „einzig richtige Entscheidung“. Bereits 2007 schrieb sie in ihrer Autobiografie, dass es ihr in ihrer politischen Karriere darum ginge, das ramponierte Image ihres Vaters aufzupolieren. Selbst inmitten der heißen Phase des Wahlkampfs musste sie sich mit diesem Erbe auseinander setzen. In der Asienausgabe des US-amerikanischen Magazins Time vom 17. Dezember 2012 erschien die Lady auf dem Cover. Doch übereifrige Mitarbeiter in ihrem Stab übten sich in Euphemismus, als sie den Titel „The Strongman’s Daughter“ („Die Tochter eines Diktatoren/Tyrannen“) mit „Die Tochter eines starken Führers“ ins Koreanische übersetzten. Überdies eines „Führers“, der – sehr zum Verdruss vieler Koreaner – als Takaki Masao (so sein einst japanisierter Name) den verhassten japanischen Kolonialherren devot gedient und ihnen in einem Blutspakt unbedingte Treue geschworen hatte.

Punkten konnte Park Geun-Hye in ihrem siegreichen Wahlkampf mit dem Versprechen, von der knallharten neoliberalen Wirtschaftspolitik ihres Vorgängers Lee Myung-Bak, der seinen Spitznamen „der Bulldozer“ überaus schätzte, abzurücken. Dieser hatte die Politik seiner beiden Vorgänger, die „Sonnenscheinpolitik“ Kim Dae-Jungs vis-à-vis dem Norden sowie die „Politik für Frieden und Prosperität“ Roh Moo-Hyuns, als naiv und deren Regierungsjahre von 1998 bis 2008 als eine „verlorene Dekade“ abgekanzelt.

Park hatte demgegenüber versprochen, sich stärker für die Armen und Marginalisierten im Lande einzusetzen und „eine neue Ära für unser Land zu beginnen". Außenpolitisch setzte die neue Präsidentin auf die Wiederbelebung des Dialogs mit dem Norden. Allesamt Pläne, von denen die Lady im Rahmen ihrer reichlich dreijährigen Amtszeit immer weiter abrückte. Stattdessen verschärfte sie innenpolitisch die Repression gegen Arbeiter, Lehrer, zivilgesellschaftliche und oppositionelle Kräfte und verfolgte außenpolitisch einen stramm antikommunistischen Kurs. Beides rechtfertigte sie stets mit der Notwendigkeit „innerer Stabilität“, um international wettbewerbshähig zu bleiben, beziehungsweise mit dem „großen Bedrohungspotenzial“, das vom nördlichen Nachbar ausgehe. Bleiben schließlich noch nicht aus dem Weg geräumte Anschuldigungen von Whistleblowers aus dem südkoreanischen Geheimdienst NIS, wonach dieser während des letzten Präsidentschaftswahlkampfs für Park systematisch illegale Wahlkampfhilfe betrieben habe. Der NIS ist und bleibt ein Staat im Staate, der, von ultrakonservativen Kräften gesteuert, über die Auslegung und Anwendung des seit der Staatsgründung wichtigsten Unterdrückungsinstruments von Widerstand und Opposition, des Nationalen Sicherheitsgesetzes (NSG), befindet.

Die Schulbuchdebatte ist in diesem Sinne integraler Teil eines ebenso politisch wie ideologisch und kulturell erbitterten Kampfes um die Deutungshoheit der jüngeren Geschichte. So wie sich Park und stockkonservative Getreue in Südkorea der Würdigung des väterlichen Erbes verschrieben haben, sind reaktionäre Kräfte in den Philippinen und Indonesien bestrebt, die einstigen Diktatoren Marcos und Suharto aufzuwerten, indem man Ersterem im Nachhinein ein Staatsbegräbnis verschaffen und Letzteren zum „Nationalhelden“ hochstilisieren möchte.
Rainer Werning