20. August 2012

Montag, 20. August

Samstag und Sonntag in Qingdao

Nach dem täglichen Email-Check machen wir uns auf den Weg zur Litsuan-Kirche, dem vielleicht von der Berliner Mission erstellten Gebäude. Ich liebe diese kleine Kirche, die für die vielen hundert Leute, die sonntags hier zusammenkommen, viiiel zu klein ist. Wir hatten gehört, dass die Gemeinde ihre Kirche neu baut. Und so ging ich davon aus, dass die alte abgerissen wird. Ein Fehler, wie sich herausstellt. Die Kirche steht unter dem Schutz der Regierung, sie ist alt genug dafür und hat(te) eine wichtige Bedeutung für die Gesellschaft. Die Gemeinde baut 3 km weiter eine neue Kirche. Wir werden sie am Dienstag besuchen, sie wurde im vergangenen April eingeweiht.

Jetzt aber geht es zuerst und noch ein Mal zur alten Litsuan-Kirche. Wir sind nicht sicher, ob wir dort jemanden antreffen. Die Fahrt mit dem Taxi dauert fast eine Stunde, nicht nur wegen der Entfernung. Am späten Abend schafft es ein Taxi in etwa 30 Minuten. Wir stehen dann vor verschlossener Türe. Aber es gibt noch einen schmalen Hintereingang, den kann benutzen, wer Bescheid weiß. Bei früheren Besuchen bin ich öfter durch diese „enge Pforte" in die Kirche gelangt. Hinter der Kirche stehen noch zwei schlichte Gebäude, Hallen mit Stühlen und Bänken, in die der Gottesdienst aus dem Kirchlein übertragen wird. Aber heute ist auch diese Türe im schmalen Gang zwischen den Häusern verschlossen, mit einem kräftigen Vorhängeschloss von außen. Also zurück zum Haupteingang. Klopfen hilft nichts. Also ein Versuch mit dem Telefon, die Nummer der Kirche habe ich ja. Und tatsächlich, nach längerem Klingeln kommt eine Stimme aus dem Mobile Phone. Nach kurzer Erklärung wer wir sind und was wir wollen, wird uns geöffnet. Und siehe da, es ist der alte Wärter, Kirchendiener, Hausmeister, den ich gut kenne und dem auch ich gut bekannt bin. Er ist nur zwei Jahre jünger als ich, sieht aber älter aus. Er ist der Vater von Pfrin DONG Mei Qin, der hier seit vielen Jahren die Wache hält, indem er in der Kirche wohnt. Er ist überrascht von meinem Besuch, holt uns in die Kirche herein, gießt uns heißes Wasser zum Trinken ein (die Hitze ist heute durch die Schwüle schier unerträglich, mein Kreislauf schwächelt). Das tut gut. Auch hier wieder zuerst Erinnerungen. Und heute sei kein Gottesdienst geplant, erst morgen, Sonntag. Ich frage nach der neuen Kirche und höre, dass sie schon im April eingeweiht worden sei. Und eine zweite Kirche, viel größer, sei in Planung. Das Land sei schon von der Regierung bereitgestellt worden, nun warte man noch auf die Spenden der Gemeinde(n), mit deren Hilfe dann gebaut werden kann. Für den Kirchbau und alles, was dazu gehört, gibt es keinen Zuschuss der Regierung. Sie stellt allerdings das Land zur Verfügung – die Kirche könnte sich das nicht leisten. Sie kommt aber auch kaum in Versuchung, denn das Land gehört dem Staat und er vergibt nach Bedürftigkeit oder Notwenigkeit. Von der Kirche wird erwartet, dass sie beim Aufbau des Staates hilft. Und da gibt es eine Menge zu tun: Die psychischen Herausforderungen an die Menschen geraten sehr oft an Grenzen, bei denen dann oft die Hilfe der Kirche gesucht wird. Dafür gibt es dann auch eine bes. Ausbildung der Pfarrer und Prediger.

Herr DONG Qi Hua ist sichtlich erfreut über unsern Besuch. Die Unterhaltung zweier alter Männer dreht sich dann auch um das Altern, um das für uns beide bevorstehende Ende der irdischen Existenz. Und wir wissen, auch ohne viele Worte, dass wir uns wiedersehen werden. Ein paar Fotos noch von dieser denkmalgeschützten Kirche, dann machen wir uns auf den Rückweg. Die Kirche wird auch weiter dem Gottesdienst dienen, die Leute aus der näheren Umgebung werden kaum in die neue Kirche gehen. Dort aber wächst ein neuer Stadtteil heran – wir werden ihn am Dienstag besuchen.

Zurück im Hotel, ich bin nun allein, will ich ausruhen; da erreicht mich ein Anruf: Rebekah WANG,- eben von dieser Litsuan-Gemeinde ruft an. Wir sollten uns treffen, sie wolle mir ihren Boyfriend vorstellen. Der Boyfriend spricht dann auch ins Telefon: er ist ein Chinese aus den USA, mit amerikanischer Staatsbürgerschaft. Verständigung kein Problem. Plötzlich wagt Rebekah kaum zu übersetzen, überlässt es ihrem Freund. Da ich weiß, wie ich zur Kirche komme auch ohne Führung, mache ich mich auf den Weg. Aber das ist leichter entschieden als getan. Eine geschlagene Stunde warte ich auf ein freies Taxi. Zwei Taxen verweigern sich dieser Fahrt in einen der Außenbezirke Qingdaos. Ich gebe auf. Vielleicht lässt es sich am Sonntag organisieren. Mein Kreislauf ist damit sehr einverstanden.

Um 8:30 Uhr am Sonntag kommt mein treuer Übersetzer. Wir fahren zu einer für mich neuen Kirche in der Altstadt, nicht weit vom Office des China Christian Council in der Christian Council in der Yan-An-3-Lu: zum Zhanshan Meeting Place. Fünfmal kreisen wir in den engen Straßen, auf beiden Seiten parken Autos, Gegenverkehr ist erlaubt. Die Anwohner wissen Bescheid und zeigen uns den Weg. Es ist noch nicht 9 Uhr, aber der Gesang der Gemeinde empfängt uns. Dabei war uns gesagt worden, dass der Gottesdienst um 9:30 Uhr beginne. Um diese Zeit beginnt aber dann die Predigt. Vielleicht haben wir am Freitag nicht genau genug zugehört. Gelesen wird der schöne Text aus dem Philipperbrief: „Ein jeder sei gesinnt wie Jesus Christus auch war...". Ein Chor von 16 Leuten rahmt mit seinen Liedern die Predigt. Diese Kirche ist keine „Kirche", sondern ein sog. Meeting Place, ein großer Saal mit Bänken, mindestens 15 Reihen und 10-12 Leute sitzen in einer Bankreihe. Ich schätze, dass etwa 200 Personen anwesend sind, meist ältere Menschen. Sie scheinen aus der Umgebung der Kirche zu kommen, die nicht gerade reich aussieht. Pfarrerin Dong bestätigt später diese Einschätzung und fügt hinzu, dass die Jugend andere Gottesdienstformen verlange und darum lieber in die Gottesdiente anderer Gemeinden gehe. „Wir gehen dorthin, wo die Leute sind." - auch wenn es nur ältere sind. 8 Ventilatoren an den Wänden und 8 weitere unter der Decke sorgen für kurze Zeit für das Gefühl einer Kühlung. Viele benutzen zusätzlich ihre Fächer. Die Handys sind wohl abgestellt, aber doch steht immer wieder jemand auf, hält das Handy ans Ohr und geht aus der Kirche raus. Gleich setzt sich aber ein anderer Besucher auf den Platz.

Heute wird Abendmahl gefeiert. Für mich ein erstes Mal. Oblaten und Einzelkelche mit Traubensaft werden gereicht (beim Mittagessen mit Pfrin DONG und Pfr. LIU wird der Vergleich mit Deutschland zum Gespräch). Erst auf den Hinweis der Pfarrerin hin werden die Oblaten eingenommen, danach der Einzelkelch. Wenn auch nicht aus einem Kelch, so doch alle gleichzeitig. Man hat um 1980, nach der Kulturrevolution, diesen Stadtteil ausgesucht und vor 10 Jahren diese Halle, um nahe bei den Menschen zu sein. Aus dieser Wohngegend kommen etwa 100, der Rest von außerhalb, so die Pfarrerin. Das hat auch zur Folge, dass die Gemeinde wenig Mitarbeiter hat und alle sind schon ältere Menschen. Als wir aus dem Taxi ausstiegen und uns anschickten, in die Kirche zu gehen, hatte uns eine ältere Dame, sicher schon über 80 Jahre alt und schlecht zu Fuß und sich auf einen Stock stützend nachdrücklich gesagt, wir sollten in die Kirche gehen. Denn da würde von Jesus erzählt. Sie selber glaube fest an diesen Jesus Christus. Ich bedeute ihr, dass wir darum gekommen seien. - Trotz der fehlenden Jugend wird lebendig und kräftig gesungen, man hört das deutlich, denn das Klavier kann nicht so laut reden, wie eine deutsche Orgel.

Zum gemeinsamen Mittagessen hat uns Pfrin Dong eingeladen, Pfr. LIU stößt später dazu. Ein reich gedeckter Tisch, wir genießen alle diese Speisen, bes. mein Übersetzer, der sich eine solche Tafel gewiss nicht leisten kann. Ich werde nach Deutschland ausgefragt und wir sind uns einig, dass wir solche Gespräche öfter führen sollten. Es komme darauf an, dass wir voneinander lernen, nicht einander belehren. Die Mega-Kirchen in Korea faszinieren ja die deutschen Kirchen beträchtlich, die chinesischen Kirchen wachsen schneller. Aber Korea praktiziert das westliche Modell, China hat sein eigenes und hat es dabei nicht nötig, westliche Modelle nachzuahmen. Sie würden die Menschen kaum erreichen. Vielleicht sollten wir in Deutschland darüber nachdenken, was „leben mit den Menschen" bei uns bedeuten müsste. – Meine widerholte Frage nach kirchlicher Arbeit außer den Gottesdiensten findet wenig Resonanz. Langsam beginne ich zu ahnen, dass jeder Gottesdienst, jedes Gespräch, jeder Besuch und jeder „Hauskreis" nicht nur evangelisierenden Charakter hat, sondern vor allem auch Sozialarbeit ist. Mission im eigentlichen Sinn. Pfarrerin DONG weist darauf hin, dass die psychischen Belastungen in der Gesellschaft und die daraus resultierenden Krankheiten sehr stark zunehmen und dass gerade sie die Zuwendung der christlichen Kirchen verlangen. Keine der andere Religionen (und es gibt einen hohen Prozentsatz von Muslimen in dieser Stadt!) kann so offen in die Gesellschaft hineinwirken, wie die christlichen Gemeinden. Ihre Verantwortung in der und für die Gesellschaft nimmt darum zu. „Wir sind dabei, neue Antworten für die vielerlei Herausforderungen, die aus der Gesellschaft auf uns zukommen, zu finden. Viele unserer Beratungen befassen sich mit diesem Thema." Die theologische Ausbildung nimmt darauf gewiß Rücksicht, aber gelernt wird vor allem in der Auseinandersetzung mit der Gesellschaft, in den Gesprächen untereinander, in den kleinen Gruppen und Hauskreisen.

Noch während wir beim Essen sind erreicht mich ein Anruf von Rebekah WANG, der Übersetzerin früherer Jahre, sie und ihr Freund hätten heute Nachmittag Zeit und warteten in der Zhonglao-lu-Kirche auf mich. Eigentlich wollte ich mir etwas Mittagsruhe gönnen – aber diese Gelegenheit durfte ich mir nicht entgehen lassen. So bringt mich also ein Taxi in 40 Minuten zu dieser Kirche – die ich jetzt wiedererkenne. Eine große Halle mit mehreren Nebenräumen. Hier versammelt sich auch eine koreanische Gemeinde und man teilt sich die Räume. Zwei der Nebenräume sind typisch koreanisch ausgelegt – mit Ondol. Hier ist Rebekah für die „Orgel", die hier ein Klavier ist, zuständig. Der Gottesdienst begann bereits vor 20 Minuten. Man erwartet mich, ich werde - schon weit vor dem Eingang - von einer Helferin an die andere weitergereicht, setze mich dann in eine der hinteren Bankreihen. Die Predigerin ist mir nicht bekannt, sie verlässt nach dem Gottesdienst auch schnell die Kirche: andere Pflichten rufen. Es ist dies der Hauptgottesdienst der Gemeinde, um 15 Uhr!. Die Bankreihen sind nur zur Hälfte gefüllt. Nach der überfüllen Kirche am Morgen nun diese mit etwa 150 Menschen noch nicht halbvolle. Das Wachstum kennt in dieser Gegend von Qingdao, einem außerhalb der engeren Stadtgrenzen liegenden Bezirk Litsuan, ein anders Maß.

Im Stadtteil Litsuan stand die alte, denkmalgeschützte, von der Berliner Mission (?) gegründete Litsuan-Kirche, die viel zu klein ist. 3 km weiter steht seit April die neue, viel größere Kirche (am Dienstag-Nachmittag werden wir sie aufsuchen). Und nun sitze ich hier in der Zhonglao-Lu-Kirche, die im selben Bezirk liegt. Mich würde inzwischen nicht mehr wundern, wenn noch ein oder zwei Gemeinden im selben Bezirk auftauchen oder mir vorgeführt würden. – Der Bibeltext wird von der Gemeinde laut und gemeinsam verlesen. Wer keine eigene Bibel hat, der kann auf der Leinwand mitlesen. Die Predigt hält Frau ZENG Zhao-Juan. – Hier werde ich nach dem Gottesdienst von einer älteren Frau begrüßt, die mich „angeblich" 2010 zum Flughafen gefahren hat. Ich hatte das vergessen, kann mich nur schwer an Frau CHANG Yu-Xia erinnern. Freilich gebe ich etwas verschämt meiner Dankbarkeit Ausdruck. Später an diesem Abend lässt sie mich wissen, dass sie mich mit dem Wagen ihres Mannes ins Hotel zurückbringen wird. Vorher aber lädt mich die Mutter von Rebekah, eine treue Christin, zu sich nach Hause ein. Das hat sie schon 2010 getan, aber damals war keine Zeit dafür in meinem Reiseplan. Heute habe ich Zeit und ich sage gerne zu. Ihr Mann arbeitet noch, hat aber die 60 schon überschritten und geht auf den Ruhestand zu. Er aber ist kein Christ und es gefällt ihm gar nicht, das seine Frau zur Kirche geht und z.B. vor jeder Mahlzeit die Hände faltet. Als wir in ihrem Haus ankommen, ist der Mann mit der kleinen einjährigen Enkelin auf einem Spaziergang. Sie hat zwei Töchter, die jüngere ist verheiratet und sie haben den Enkel. Die ältere spielt die Orgel bzw. das Klavier und sie hat einen Freund, einen Chinesen, der in zweiter Generation in Kalifornien lebt, Englisch und Chinesisch beherrscht. - Da bin ich nun zum ersten Mal in einem Privathaus, in einer Familie zu Hause eingeladen. Die Mutter kocht ein himmlisches Essen während ich mich mit dem Vater des Hauses unterhalte – mit Hilfe des künftigen Schwiegersohnes aus den USA. Zunächst wirkt der Vater etwas reserviert, taut dann auf, als er sieht, wie auch für mich keine Messer und Gabel, sondern Stäbchen gedeckt werden, und erfährt dann von der Familie, dass der fremde Pfarrer in China geboren sei. Da gibt es dann Gesprächsstoff die Fülle. Sechs verschiedene Fischsorten, Gemüse, Reis ist Nebensache. Alles innerhalb einer Stunde von der Mutter des Hauses allein zubereitet. Selbst eine Flasche kostbaren chinesischen Weins wird geöffnet – Anlass über die deutschen Weine und ihren Anbau zu sprechen und mit diesem chinesischen zu vergleichen. Ich nippe nur vorsichtig am Glas, denn der Vater erlaubt nicht, dass ich mich verweigere...

Leider konnte ich keine Fotos von der Siedlung machen. Es ist die schönste neuere Wohnsiedlung, die ich bislang bei meinen 6 Reisen gesehen habe. Auch die Wohnung ist geräumig, hat 3 Schlafzimmer, einen großen gemeinsamen Wohnraum, eine nicht kleine Küche, Bad. Im 5. Stockwerk gelegen ist der Abstand zum Lärm groß genug, aber Lärm gibt es in dieser Siedlung kaum, höchstens der Lärm der Kinder. Die Konstruktion erinnert mich an die Wohnungen in den Hochhäusern von Seoul, von denen ich eine ganze Reihe kennen gelernt habe. Die einzelnen Häuser haben 10 Stockwerke, sind mit Aufzug versehen. Jede Wohnung hat mindestens einen Balkon, auf dem dann die Blumen blühen. Und alles rundherum für Frau Wang Missionsland.