1968: Klausurtagung - Neugestaltung des Kyodan

 

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Aus der Geschichte (1968)


1984 - 1952 - 1968 - 1972/73 - 1992

 

Pfarrer Hiromichi Morita

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I.
Im Jahre 1859 kam ein englischer Missionar nach Japan. Damit hat die Ge­schichte der evangelischen Kirche in Japan begonnen. 1872 wurde in Yokohama die erste Gemeinde der Japaner gegründet. Diese Gemeinde hieß Nippon-Kirisuto-Kokai (Allgemeine christliche Gemeinde in Japan). Sie war überkonfessionell und von allen Denominationen und Missionsgesellschaften unabhängig. Aber danach wurden durch die Tätigkeit der Missionare aus Nordamerika und Europa allerlei Denominationen nach Japan verpflanzt. Die Zunahme der Denominationen führte bei Missionaren und Japanern zum Streben nach einer Vereinigung der Kirchen. Bei der Gründung der Vereinigten Kirche Christi in Japan (1941) spielte der Druck von außen, d. h. des Staates, eine große Rolle. Deshalb versteht es sich von selbst, daß nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges viele Gruppen aus der Vereinigten Kirche wieder austraten. Aber der Kyodan hat die Krise überstanden und ist heute die größte Kirche in Japan. Darum hat sie als Vereinigte Kirche eine doppelte Aufgabe.

Einmal ist dieser Prozeß noch nicht abgeschlossen und wird auch niemals abgeschlossen sein. Wenn der Kyodan sich als eine abgeschlossene Größe den andern Kirchen gegenüber versteht (und behauptet), wird er sicher in den Denominationalismus geraten, gegen den er sich heftig wehren muß. Konkret steht er heute vor der Aufgabe der Vereinigung mit der Kirche Christi in Okinawa (Okinawa-Kirisuto-Kyodan). Die von den USA als Militärbasis besetzte Insel ist Japan noch nicht zurückgegeben; nur die sog. latente Herrschaft Japans über Okinawa durch Amerika ist anerkannt. Aber die Verhandlungen über die Vereinigung der Kirche in Okinawa und des Kyodan werden jetzt geführt, und es wird in absehbarer Zeit die Vereinigte Evangelische Kirche Christi in Japan entstehen, die auch Okinawa als einen ihrer Distrikte umfaßt. Also: der Kyodan muß stets eine sich mit anderen vereinigende Kirche sein. Das ist ein Aspekt der Aufgaben des Kyodan.

Zum andern muß er sich um die innere Einigkeit bemühen. Diese ist mit dem Problem des Selbständig- und Solidarischwerdens verbunden. Der Kyodan hat seit langem versucht, von der Hilfe von außen unabhängig zu werden, er ist aber zum Teil noch auf die Hilfe der ausländischen Kirchen angewiesen. Es geht dabei nicht um nationalistisch bestimmte Unabhängigkeit, sondern um die Verantwortung für sich selbst und für andere, nämlich für das japanische Volk und für die anderen Völker. Bis jetzt haben ausländische Kirchen für die japanische Kirche Verantwortung getragen. Aber jetzt ist die Zeit da, wo wir uns selber und anderen helfen müssen. Es geht darum, ob die japanische Kirche zur Reife für den Vollzug ihres Christenlebens und ihrer Aufgaben gelangen wird. Wenn wir uns auf die Aufgabe des Selbständigwerdens konzentrieren, entdecken wir immer, daß es sich dabei um das innere Wachstum und die Erneuerung unseres Christenlebens handelt. Dieser Weg zur Selbständigkeit muß auch äußerlich durch die Umwandlung der innerkirchlichen Organisationen und durch die Änderung der verschiedenen Pläne der Mission konkretisiert werden. Wenn wir für die Durchführung der Missionsaufgabe nicht mehr auf die Hilfe von außen angewiesen sein wollen, müssen wir als Subjekt die Verantwortung fUr die Ausrichtung der vielerlei Aufgaben der Kirche tragen. Das bedeutet die Veränderung und Erneuerung der Verfassung, der bisherigen Strukturen und der Organisationen unserer Kirche. Kurz, wir müssen solidarischer und beweglicher werden. Wir müssen uns in bestimmter Richtung in Bewegung setzen. "

II.

Unter dem Wort Mission versteht man einen Vorgang: Sendung des Christen - Verkündigung des Evangeliums - Bekehrung und Taufe der Nichtchristen - Inkorporierung der Täuflinge (meist Erwachsene) in die Christengemeinschaft. Diese Vorstellung ist an sich richtig. Aber man neigt leicht dazu, auf Grund der Anzahl der Täuflinge den Erfolg - wenn es so etwas Uberhaupt gibt - der Mission zu beurteilen. Mit einem Bild gesprochen: Die Kirche ist der Fischer, der im Meer der Heidenwelt angelt. Die geangelten Fische sind Täuflinge. Man wartet auf die Menschen, die in die Kirche kommen werden. Daß in der Kirche immer auf die von der Außenwelt hereinkommenden Menschen gewartet wird, das wird als "come structure" der Kirche bezeichnet. Damit liegt der Gedanke nahe, daß es der Kirche hauptsächlich um die Vermehrung der Zahl der bekehrten Täuflinge geht. Freilich ist das ein ganz berechtigtes Anliegen. Aber wird nicht dadurch die Kirche unbewußt von der umgebenden Welt isoliert? Zielt man nicht auf das Christwerden aller Menschen der Heidenwelt zugunsten der Kirche, auf die Christianisierung oder gar Inkorporierung des ganzen Volkes in die Kirche, deren Vorbild die angeblich christliche Welt Europas ist? Oder denkt man nicht an die Verkirchlichung der Institutionen der Gesellschaft? Oder unterstellt man nicht den Endzweck des Handeins Gottes in Christus, die Versöhnung der Welt mit Gott, anderen Zwecken?

Man verwechselt die Mission oder die Existenz der Kirche für die Welt mit der Mission für die Kirche selbst. Hinsichtlich der Mission und der Existenz der Kirche muß man aber vielmehr an die "Pro-Existenz" - die Existenz der Kirche für die Welt - denken. Das Großwerden der Kirche an sich darf nicht Zweck der Mission werden. Dieser Typus der Mission ist bis jetzt allzu introvertiert. Der Satz "extra ecclesiam nulla salus" wird falsch verstanden in der Weise, daß er den anderen Zusammenhang "extra muros ecclesiae" völlig ausschließt. Die Kirche neigt dazu, sich nur mit den innerkirchlichen Problemen zu beschäftigen. Die Gefahr der nur introvertiert orientierten Kirche besteht darin, daß sie Ghettogemeinde wird, daß sie hauptsächlich für sich selbst lebt und daß sie sich der lebendigen Auseinandersetzung mit der Außenwelt entzieht. Dagegen muß es vielmehr um die Bezeugung der Herrschaft Jesu Christi sowohl innerhalb als auch außerhalb der Mauern der Kirche gehen. Ich glaube, daß die Mission eigentlich eine Bewegung nach außen, eine extrovertierte Bewegung ist. Denn die Kirche hat eine zwischenzeitliche Existenz, die Existenz auf die Endzeit des universalen Heils hin. Sie muß durch die Verkündigung und die Mission das vorangehende Werk des Heils Gottes für die ganze Welt bezeugen. Gottes Werk in seinem Sohn ist eine Bewegung, ein Weg nach außen, in dem die Aufgabe der Mission begründet ist. Der Kirche geht es darum, daß das Heil Gottes geschichtlich geschieht. Wie kann man die Gefahr vermeiden, daß die christliche Kirche ein geschlossener Kreis der nur für sich gesegneten Christenmenschen wird? Es geht darum, wie die Mission durch die christliche Gemeinde wahrhaftig, der Gnadentat Gottes in Jesus Christus entsprechend, vollzogen wird.

Die christliche Kirche in Japan ist Diasporagemeinde, nicht im Sinne der evangelischen Kirche im katholischen Gebiet, sondern als Christengemeinde in der nichtchristlichen Umgebung. Die christlichen Gemeinden sind überall in Japan anzutreffen und weit zerstreut. Ausnahmsweise ist es in den großen Städten wie Tokyo manchmal der Fall, daß die Kirchen in einem Distrikt eng beieinander stehen. Aber die einzelne Kirche bedeutet für das öffentliche und private Leben der Bevölkerung des sie umgebenden Gebietes fast nichts. Die allgemeine Haltung der Einwohner gegenüber der Kirche kann als gleichgültig bezeichnet werden. Man betrachtet die Kirche als eine Schar besonders religiös geneigter oder schwacher Menschen. Für durchschnittliche Japaner scheint es allzu einseitig, einer christlichen Kirche anzugehören. Man findet keine Notwendigkeit, Christ zu werden oder zu sein. Einzelne Christen sind in allen Bereichen der Gesellschaft zerstreut. Normalerweise sind sie in der Gesellschaft als Christen fast unauffällig. Auch in den Familien sind sie sehr oft die einzigen Christen unter nichtchristlichen Familienmitgliedern, abgesehen von den christlichen Familien. Bis jetzt sind unsere Kirchgänger meist Leute, die die alten Familienbeziehungen relativ gut losgeworden sind. Diejenigen, die es mit der traditionellen Lebensweise zu tun haben müssen, kommen nur mit Schwierigkeiten in die Kirche. Oder umgekehrt, wenn man Christ wird, kann man es mehr oder weniger nicht vermeiden, sozusagen Einzelgänger in seiner Familien- oder Gesellschaftsbeziehung zu werden. Die Kirche neigt auch dazu, die Menschen als Individuen anzusprechen, was den geschichtlichen und soziologischen Verhältnissen zuwider läuft. Die Kirche seiber hat Schwierigkeiten in der Aufgabe, sich im Kontext der Gesellschaft zu konkretisieren. Dennoch sind sich Kirche und Christen ihrer Stärke bewußt, wenn diese auch beschränkt ist.

Die Lage der Diaspora erlaubt es uns nicht, nur innerhalb des Rahmens des individuellen Glaubens und der Mauern der Kirche zu bleiben. Wir sind überall mit den gestrigen, heutigen und zukünftigen Problemen der Familie, Gesellschaft und der anderen Religionen konfrontiert. Der im Vollzug der Mission heimlich herrschende Individualismus taugt heute nicht mehr. Aber wir können uns auch nicht in den Kollektivismus einlassen. Die Parochie oder den Pfarrbezirk gab und gibt es in Japan nicht. Ohne eine besondere Art der Gruppierung der Menschen, Schichten und Klassen zu bevorzugen, muß die Kirche den Menschen in ihrer konkreten Lage begegnen.

Es geht darum, wie wir japanischen Christen in unser eigenes Denken und Tun andere Menschen außerhalb der Mauer der Kirche mit einbeziehen, wie wir als Christen gute Nachbarn unserer eigenen Landsleute werden können. Daß die christliche Kirche Kirche in der Diaspora ist, muß nicht bedeuten, qaß ihre Gemeinden gegeneinander isoliert leben und unsolidarisch sind. Aber man kann die Tatsache nicht übersehen, daß die einzelne Ortskirche in Japan so aussieht, als sei sie ein kleiner Privatbetrieb. Es liegt zum großen Teil an jenem heimlichen, aber weit verbreiteten Prinzip der Mission, Leute in die eigene Kirche zu bringen und die eigene Kirche groß werden zu lassen. Die einzelne Gemeinde neigt dazu, für sich selber sein zu wollen. Wir sind uns dieser Gefahr bewußt geworden. Das Für-sich-Se.in der Kirche ist das Hindernis nicht nur der Mission, sondern auch des inneren Aufbaus der Kirche. Wir müssen den kirchlichen Egoismus vermeiden und überwinden, der die echte Begegnung mit Mitchristen und Nichtchristen hindert. Es geht darum, daß sich einzelne Ortskirchen und Christen im Dienst für den Herrn und die Mitmenschen zusammenschli.eßen. Solidarischwerden der Ortskirchen und Christen vollzieht sich allein mit einer Belebung des Gemeindelebens der Christen in der Liebe. Die zerstreuten Kirchen sind ständig dadurch bedroht, daß ihr Leben in der Einsamkeit und in der Schwäche stagniert. Das Steckenbleiben der Liebesgemeinschaft macht die Kirche zu einer abscheulichen Sache. Wir suchen jetzt nach dem Weg zur Solidarität der einzelnen und der gesamten Kirche, die ihr aus der Situation ihrer Stagnation heraushilft. Zur Verwirklichung dieses Versuches ist heute das Modell des "Dendo-ken" (Missionsgebiet, Missionsbezirk) entworfen worden. Es geht dabei um das "team work" der sich in einem Missionsbezirk befindenden Ortskirchen in der Planung und der Durchführung der Missionstätigkeit. Der Akzent ist nicht auf die geographische Aufteilung des Missionsbezirks gelegt,. sondern auf das "team work". Es ist zuerst mit der Zusammenarbeit der Pfarrer der Ortskirchen zu beginnen. Sie machen gemeinsam theologische Studien und pflegen den Gedankenaustausch in Bezug auf die Gemeindearbeit. Sie planen ein gemeinsames Missions- und Ausbildungsprogramm und führen es durch. Besonders auf dem Gebiet der Pionier-und Industriernission ist das team work unentbehrlich. Dabei muß die aktive Teilnahme der Laien an der Missions­tätigkeit der Kirche besonders betont und gefördert werden.

III.

Die Kirche heißt auf japanisch "Kyokai", was wörtlich übersetzt "Versammlung des Lehrens" bedeutet. Darunter stellt man sich eine Schar von Kirchgängern vor, die sozusagen als Schüler von einem Pfarrer als dem Lehrer unterrichtet und betreut werden. Mit einem anderen Bild kann man wohl auch sagen, daß der Pfarrer der Direktor eines Kindergartens ist und die Laien unselbständige Kinder sind, die ständig ihren Betreuer in Anspruoh nehmen möchten. Freilich habe ich ein bißchen zu stark karikiert. Aber dahinter steckt ein heimlich eingeschlichener Gedanke. Der Pfarrer soll Vorbild für alle Christen sein, und durch eine möglichst echte Nachfolge Christi ausgezeichnet sein; der Pfarrer soll gar ein heiliger Mensch sein, der, selber ganz anspruchslos, allein für andere verantwortlich ist. Dagegen dürfen die Laien zweitrangige Christen sein, die weniger geistliche Gaben haben und darum zum Dienst für Christus weniger befähigt sind. Infolgedessen können sich die Laien der Verantwortung für die Gemeinde unter Umständen entziehen. Sie erwarten von ihrem Pfarrer alle möglichen Tätigkeiten für die Gemeinde und für die Betreuung der Gemeindeglieder. Scharf ausgedrückt ist der Pfarrer Geber oder Vermittler von allerlei Gnade und die Laien sind Empfänger der Gnade der Kirche durch den Pfarrer. Es sieht so aus, als ob es zwischen Laien und Geistlichen einen wesentlichen Unterschied gäbe. Aber bedeutet die Verschiedenheit der Funktion oder der Dienste in der Gemeinde auch die Verschiedenheit der Stände als Christen? Die Gemeinde darf nicht zur Pfarrergemeinde werden, die Laien dürfen nicht das eingefrorene Kapital bleiben.

Das auf eine Person konzentrierte Verständnis, besser Mißverständnis der Gemeinde und ihres Dienstes muß überwunden werden. Die Gemeinde muß sich zuerst als Mitarbeitergemeinschaft im Dienste des Herrn der Gemeinde verstehen. Dabei sind mehrere Punkte zu bedenken:

1.

Es müssen heute verschiedene Dienste und Aufgaben der Kirche an dem Ort, an dem sich die Christengemeinde befindet, wahrgenommen werden. Die zu solchen bestimmten Aufgaben und Diensten geeigneten Gaben müssen ermittelt werden. Der Weg muß gefunden werden, auf dem diese Gaben eingesetzt werden können, die Hindernisse zum Einsatz solcher Gaben müssen beseitigt werden.

2.

Die Gemeinschaft der Christen muß als Dienstgemeinschaft oder Mitarbeitergemeinschaft verstanden werden, wobei die streng gezogene Grenzlinie zwischen den zwei Ständen Pfarrer und Laien verschwinden wird. Die Person des Pfarrers und des Laien muß als Träger der Funktion der Gemeinde betrachtet werden.

3.

Die Berufung der Laien zum Dienst für den Herrn muß der Berufung zum Pfarramt gleichgeachtet werden. Die Gemeindeglieder sind nicht bloß Anhängerschaft, sondern sie müssen zum Dienst befähigt werden. Die Verantwortung der Laien für die Ausrichtung der Aufgaben der Gemeinde muß ernst genommen werden.

4.

Andererseits ist es dringend nötig, daß die Neudefinition des Pfarramtes in der Weise getroffen wird, daß es den neueröffneten Bereichen der Missionsaufgabe entsprechen kann. Neue Bestimmungen über die verschiedenen Ämter der Pfarrer und Gemeindemitarbeiter müssen in die Kirchenordnung hineingebracht werden.