2015: Imperiales Design

Quelle:  Junge Welt, 02.09.2015
Mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers.
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Imperiales Design

Am 2. September 1945 endete mit Japans Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde offiziell der Zweite Weltkrieg (Teil I): Der Aufstieg des Inselstaates zur expansiven Großmacht.
Von Rainer Werning



Um 1850, nach reichlich drei Jahrhunderten kolonialer Expansion, waren Süd-, Südost- und Ostasien in europäische Einflusssphären aufgeteilt. Mit zwei Ausnahmen: Das Königreich Siam (Thailand) vermochte als Puffer zwischen britischen und französischen Herrschaftsansprüchen seine Unabhängigkeit weitgehend zu wahren. Und in Japan hatte sich das dort seit 1192 nahezu ungebrochen herrschende Shogunat (Shogun bedeutet »der die Barbaren bezwingende große General«) gegenüber dem Ausland weitgehend abgeschottet. Lediglich auf der eigens aufgeschütteten Insel Dejima in der Bucht von Nagasaki war niederländischen Kaufleuten von dem regierenden Tokugawa-Clan der Unterhalt einer Handelsniederlassung gestattet worden.

Der gesamte indische Subkontinent, einschließlich Ceylons (heute Sri Lanka) und Birmas (heute Myanmar), war zusammen mit der Kronkolonie Hongkong, der malaiischen Halbinsel und dem an deren Südspitze gelegenen »Gibraltar des Ostens«, wie Singapur auch genannt wurde, Teil des britischen Empires. Der daran angrenzende Riesenarchipel, der sich von Westen nach Osten über 5.000 Kilometer erstreckt, zählte als Niederländisch-Indien zum Imperium des Hauses Oranien-Nassau. Die andere Inselgruppe in Südostasien, die Philippinen, war eine Domäne Spaniens. Dessen langjähriger Rivale Portugal kontrollierte auf dem chinesischen Festland die Enklave Macau und den östlichen Teil der zu Niederländisch-Indien gehörenden Insel Timor. Die Franzosen schließlich hatten sich in Vietnam, Laos und Kambodscha festgesetzt, ein Kolonialgebiet, das sie Indochina nannten. China, in dieser Zeit politisch zu schwach, um sich wirksam gegen Übergriffe von außen zu wehren, stand im Mittelpunkt der Herrschaftskalküle sämtlicher damaligen Kolonialmächte, die allesamt gleichzeitig dort Fuß fassen und sich der Schätze des »Reichs der Mitte« bemächtigen wollten.

Das Deutsche Kaiserreich und die Vereinigten Staaten von Amerika verfolgten als »Spätzünder« unter den Kolonialmächten eigene Interessen. Letztere fällten nach hitzigen Kongressdebatten zwischen den sogenannten Isolationisten und den Interventionisten beziehungsweise Imperialisten erst um 1900 endgültig die Entscheidung, in China und Südostasien Flagge zu zeigen. Nach einem vorangegangenen Krieg traten sie 1898 als neue Kolonialmacht auf den Philippinen das Erbe Spaniens an.


Gewaltsame Öffnung

Über 300 Jahre lang hatte sich Japan gegenüber dem Ausland abgeschottet, als 1854 eine US-Flotte unter dem Befehl von Commodore Matthew C. Perry die selbst gewählte Isolation des Inselreiches gewaltsam beendete und das Land für den Außenhandel öffnete. Dies markierte den Anfang vom Ende des Feudalsystems der Tokugawa-Herrschaft, das durch eine waffentechnisch weit überlegene, neue, aufstrebende imperialistische Macht im Pazifik ins Wanken gebracht wurde. Letztlich aber zerbrach die Feudalordnung aufgrund innenpolitischer Konflikte: Bauernaufstände, Missernten, Schröpfung der Bevölkerung durch erhöhte Tributzahlungen und ein erstarrtes Gesellschaftssystem mit rigider Etikette veranlassten reformorientierte junge Samurai (Kriegeradelige) aus verschiedenen Lehnsgebieten des Landes, sich zur Abwehr der Bedrohung aus dem Westen dessen technologisches Wissen anzueignen, um es eventuell zu einem späteren Zeitpunkt gegen ihn selbst zu anzuwenden. Gleichzeitig wollten sie anstelle der Militärherrscher aus dem Hause Tokugawa die kaiserliche Macht wieder einsetzen und so erneut die zentrale politische Stellung des Tenno (Kaisers) garantieren. Nur kurz dauerten die Auseinandersetzungen, als ab 1868 mit Kaiser Mutsuhito (1852–1912) ein Regent antrat, der seine Ära unter die Devise Meiji (»erleuchtete Regierung«) stellte. Anstelle von Kioto wurde das alte Edo zur neuen Hauptstadt Tokio.

Was folgte, war ein beispiellos rascher und tiefgreifender Wandel in Wirtschaft, Politik und Technik. Zunächst wurden gezielt Kontakte mit dem Ausland geknüpft, um dort zu suchen, was sich daheim am besten für die Umgestaltung des Staates eignete. In diesem Prozess der japanischen Filtrierung der westlichen Moderne war es folgerichtig, dass das Land auch und gerade systematisch den Rat und die Expertise von Ausländern suchte. Unter den um 1890 etwa 3.000 ausländischen Fachleuten in Japan waren deutsche Sachverständige für Universitäten und medizinische Schulen, US-amerikanische für Landwirtschaft, Postverkehr und Diplomatie, britische für das Eisenbahnwesen und die Kriegsmarine, französische für Kriegführung und juristische Fragen und schließlich italienische Experten für westliche Kunst eingesetzt. Diese mit Bedacht getroffene Auswahl spiegelte einerseits die japanische Gesamtbeurteilung der damaligen Lage im Westen wider. Andererseits zeigte dies auch den, wie der japanische Politologe Maruyama Masao es formulierte, »Teufelskreis von ›Außen‹-Universalismus und ›Innen‹-Bodenständigkeitsdenken«, in dem das Land gefangen war. Für Japan beinhaltete die europäische Moderne zuallererst Maschinen und Techniken. Deren Weiterentwicklung bescherte ihm solche Industrialisierungserfolge, dass der Inselstaat später nicht nur China, sondern auch Russland militärisch besiegte und sich in Ostasien als neue hegemoniale Macht etablierte.


»Reiches Land, starke Armee«

Der Aufbau des Kaiserreichs auf industrieller Grundlage, wie die Politik in Tokio offiziell genannt wurde, war möglich geworden, weil der in der Landwirtschaft geschaffene Mehrwert gezielt in den industriellen Bereich überführt wurde. Mit Steuergeldern, die der Staat als Grundsteuer Bauern und Pächtern abverlangte, wurden Handelshäuser und Industriebetriebe in staatlicher Regie gegründet. Zunächst betraf das Unternehmen der Leichtindustrie, die sich auf die Herstellung von Fasern, Textilien und Kleidung verlegten. Doch schon bald investierte der Staat auch in strategische Bereiche, die den Schiffbau, die Stahl-, Schwer- und Rüstungsindustrie umfassten. Die Gewerbefreiheit wurde ebenso garantiert wie die freie Berufswahl. Träger dieses Industrialisierungsprozesses war im Gegensatz zu Europa keine aufklärerisch-moderne bürgerliche Unternehmerschicht, sondern es waren eine dem Kaiser ergebene Adelsschicht und reiche Händler.

Um 1890 war das neue Herrschaftssystem so weit gefestigt, dass auch eine Verfassung de jure die uneingeschränkte Macht des Kaisers als zentralstaatliche Instanz schlechthin festschrieb und dieser sich auf ein stehendes Heer mit allgemeiner Wehrpflicht stützen konnte. »Der Kaiser ist heilig und unverletzlich«, hieß es in der Verfassung. Dadurch war er legitimiert, als direkter Nachfahre der Sonnengöttin Amaterasu mit unbeschränkter Machtfülle zu regieren. Als Souverän des Landes stand der Tenno an der Spitze von Armee und Marine sowie der Exekutive und Legislative. Der Wahlspruch »Reiches Land, starke Armee« offenbarte, wie herausragend künftig die Stellung des Militärs sein würde.

Im Gegensatz etwa zum Westen hatte die Armee traditionell eine politische Führungsrolle inne und genoss unter den Japanern hohes Ansehen. Sie war keine Befehlsempfängerin der Regierung oder kontrolliert von einem Parlament. Dieses hatte nur sehr begrenzt Einflussmöglichkeiten, was das Budget der Streitkräfte betraf. Gemäß der japanischen Verfassung kommandierte der Kaiser Armee und Marine, während die militärische Kontrolle zu Friedenszeiten dem Kriegs- und Marineminister sowie den jeweiligen Generalstabschefs oblag, eine Stellung, die ihnen ein hohes Maß an Unabhängigkeit sicherte. Beide Minister gehörten zwar dem Kabinett an, sie konnten aber, wenn es aus ihrer Sicht notwendig erschien, jederzeit am Premier vorbei direkt beim Kaiser vorstellig werden. Darüber hinaus konnten sie mit einer Demisssion gleichzeitig den Rücktritt des Ministerpräsidenten und die Bildung einer neuen Regierung erzwingen. Denn laut Verfassung konnte es kein funktionstüchtiges Kabinett ohne einen Kriegs- und einen Marineminister existieren. Da diese in der Regel vom jeweiligen Generalstab vorgeschlagen wurden oder sich aus dessen Rängen rekrutierten, konnten sie nicht nur jede zivile Opposition in Schach halten, sondern faktisch über Fragen von Krieg und Frieden entscheiden.


Siegreich gegen China und Russland


Im ersten bewaffnet ausgetragenen Interessenkonflikt kämpften die japanischen Streitkräfte 1894/95 gegen das Kaiserreich China. Vorrangig drehte es sich um die dauerhafte Vormachtstellung auf der koreanischen Halbinsel. Korea war lange Zeit gegenüber dem chinesischen Kaiser tributpflichtig und das eigene Königshaus durch interne Revolten und Intrigen geschwächt. Gleichzeitig (1894) erwuchs der große Tonghak (»Östliches Lernen«)-Aufstand aus einer sich rasch zuspitzenden Zerfallskrise der seit 1392 herrschenden Yi-Dynastie, die nicht fähig war, den Erfordernissen einer Modernisierung von Staat und Gesellschaft Rechnung zu tragen, zu der die wirtschaftlich-industrielle Entwicklung in der Region und das Eindringen ausländischer, insbesondere westlicher, Einflüsse zwangen.

Zwar gelang es dem koreanischen Herrscherhaus, den Tonghak-Aufstand zunächst mit Hilfe herbeigerufener chinesischer Truppen und später japanischer und projapanischer Kontingente niederzuschlagen. Doch von diesen Entwicklungen profitierten letztlich die waffentechnisch haushoch überlegenen Japaner, während Peking seinen Einfluss auf der koreanischen Halbinsel dauerhaft verlor und das dortige Königshaus zur Marionette Tokios wurde.

Korea war aufgrund seiner geographischen Lage ein Scharnier zwischen dem ostasiatischen Festland und dem insularen Japan. Und wer es beherrschte, hatte sich nicht nur (militär-)strategische Vorteile, sondern auch die Verfügungsgewalt über die reichen Bodenschätze im Norden sowie über ertragreiche Reisanbaugebiete im südlichen Landesteil verschafft. Japan entschied den Waffengang gegen China für sich und erhielt auch noch die Insel Formosa (Taiwan) als Kriegsbeute.

Die japanische Wirtschaft erlebte um 1900 eine Boomphase. Bis 1905 war der Prozess der Konzentration und Zentralisierung von Kapital zu Oligopolen so weit vorangeschritten, dass sich nahezu sämtliche Großbanken, Industriebetriebe und Verkehrsmittel des Landes im Besitz von nur einem halben Dutzend staatlich protegierter Großfamilien befanden – darunter Mitsui, Mitsubishi, Satsume und Okura. Von diesen Unternehmen war eine Vielzahl kleiner und mittlerer Zulieferfirmen extrem abhängig. Vom weiteren Aufbau der Schwerindustrie profitierten wiederum die Streitkräfte. Neue Interessenkonflikte in Korea und der Mandschurei, diesmal zwischen Russland und Japan, führten 1904/05 zum Russisch-Japanischen Krieg, aus dem Tokios Heer und Marine wiederum siegreich hervorgingen. Auch bei dieser kriegerischen Auseinandersetzung war Korea der Zankapfel. Es ging um die dauerhafte Kontrolle auf der Halbinsel. Einige Gesandte des schwachen koreanischen Königshauses hatten als Gegengewicht zur wachsenden japanischen Präsenz in Korea versucht, das zaristische Russland als Verbündeten zu gewinnen, das seinerseits Ambitionen in Fernost hegte. Mit dem Sieg Japans über die russischen Streitkräfte und damit über ein starkes europäisches Land rückte im Westen erstmals ins öffentliche Bewusstsein, dass Tokio zur Regionalmacht in Ost- und Nordostasien aufgestiegen war.


»Große Gerechtigkeit«

Als der Meiji-Kaiser im Juli 1912 starb, bestieg mit Kronprinz Yoshihito ein Mann den Thron, der seine bis Ende 1926 währende Amtszeit unter die Devise »Taishō« (»Große Gerechtigkeit«) stellte. So schwach und körperlich gebrechlich der neue, in seiner Kindheit an Hirnhautentzündung erkrankte Kaiser war, so turbulent und widersprüchlich gestalteten sich die innenpolitischen Prozesse während seiner Ära. Es gab Machtverschiebungen von den Traditionalisten und oligarchisch agierenden Beamten hin zu demokratischen Parteien, die sich trotz häufiger, teils chaotischer Regierungswechsel politisch einmischten und Teilhabe forderten. Das Proletariat war im Wachsen begriffen, eine kommunistische Partei entstand und zahlreiche Intellektuelle und Künstler, die teils in den USA oder Europa gelebt hatten, ließen sich in ihren Werken gleichermaßen von den Ideen des Sozialismus, Anarchismus und Humanismus inspirieren. Und eine bis dahin nicht gekannte Presse- und Redefreiheit führte zur sogenannten Taishō-Demokratie, wenngleich die Kaiserliche Armee hinter den Kulissen zielgerichtet und erfolgreich ihre politische Machtposition ausbaute und außenpolitische Ereignisse den Nationalismus im Land befeuerten. »Mitten in der so bezeichneten Periode«, konstatiert der Japanologe Sven Saaler, »liegen die Wurzeln der verhängnisvollen Entwicklung, die Japans Politik in den dreißiger Jahren nahm.«

Der Erste Weltkrieg bescherte Japan einen ungeheuren Aufschwung, da unter anderem Europas Großmächte auf Kriegswirtschaft umgestellt und die asiatischen Märkte vernachlässigt hatten. Da Japan auf der Seite der Jahre zuvor zwischen Großbritannien und Frankreich geschlossenen Entente stand, trat es zwangsläufig in Konkurrenz zum deutschen Kaiserreich. Am 23. August 1914 hatte Japan dem Deutschen Reich den Krieg erklärt und bereits am 7. November das »Deutsche Schutzgebiet Kiautschou« im Süden der chinesischen Halbinsel Shandong mit der Festung Tsingtau eingenommen. »Des Deutschen Abrechnung« hatte zuvor eine deutsche Propagandapostkarte aus dem selben Jahr großmäulig getönt, die ein Reim zierte, in dem es in derbst rassistischer Manier zur Sache ging: „Heran, heran, du kleiner Jap!!! Mit deutschen Fäusten schwipp und schwapp – Eins hinters Ohr, doch nicht zu knapp!!! Dir geht es wie den andern hier, Du tückisches Mongolentier!«

Wenngleich die deutsch-japanischen Beziehungen Ende des 19. Jahrhunderts sich eng und gut gestaltet hatten, ja sogar deutsche Juristen an der Formulierung der Meiji-Verfassung beteiligt gewesen waren, hatte sich vor allem unter Kaiser Wilhelm II. das bilaterale Verhältnis dramatisch verschlechtert. Dieser hatte mehrfach öffentlich die »Gelbe Gefahr«, die Angst vor einer heraufziehenden Bedrohung in Form eines modernisierten Japans im Bund mit dem bevölkerungsreichen China, die Angst vor den asiatischen Massen« oder »Horden«, beschworen.

Bei den Friedensverhandlungen 1919 in Versailles wurden Japan außer Tsingtau auch die übrigen deutschen Kolonien im Pazifik nördlich des Äquators – die Marianen-, Marshall- und die Karolinen-Inseln (außer Guam) – als Treuhandmandat des Völkerbundes zugesprochen. Doch das gleichzeitige Ansinnen, in Versailles auch gegen internationale Rassendiskriminierung anzugehen, scheiterte. Ein entscheidender Faktor in den Zwischenkriegsjahren, in Tokio einen zunehmend chauvinistischen Kurs zu steuern.


Militärische Expansion

Mit der Unterzeichnung des Washingtoner Flottenvetrags 1922 wurde der Status quo im Pazifik festgeschrieben, was im Kern hieß: Anerkennung der Souveränität und territorialen Integrität Chinas, Verbot des Baus zusätzlicher Befestigungsanlagen auf einigen pazifischen Inseln und Beschränkung bei der Schiffsproduktion. Doch bereits zu Beginn der 1930er Jahre hatte sich die Lage grundlegend geändert. Die weltweite Wirtschaftskrise verschonte auch Japan nicht. Arbeitslosigkeit in Stadt und Land grassierten, es gärte in den Dörfern, da zahlreiche Bauern über Nacht zu mittellosen Pächtern herabgesunken waren. Wachsende Armut und Unzufriedenheit boten faschistischen und chauvinistischen Kräften einen Nährboden, ihre Ziele lautstark zu propagieren. Wasser auf die Mühlen dieser Kräfte lenkte die Entscheidung in den USA, ab 1924 keine japanischen Immigranten mehr ins Land zu lassen.

1931 war es China gelungen, einen Teil seiner an Japan verlorenen Hoheitsrechte in der Mandschurei wiederzuerlangen, was im Inselstaat, vor allem in der Armee, Besorgnis auslöste. Schließlich war das Gebiet nicht nur reich an Bodenschätzen (Kohle- und Gasvorkommen), sondern auch mit Blick auf Russland von strategischer Bedeutung. Ohne die politisch verantwortlichen Kräfte in Tokio konsultiert zu haben, schlug die in der Mandschurei stationierte japanische Kwantung-Armee eigenmächtig zu und besetzte im September 1931 mehrere Großstädte in der Region. Mehr noch: Diese militärische Einheit brachte den Rest der Mandschurei unter ihre Kontrolle, installierte dort ein Marionettenregime des Vasallenstaates »Mandschukuo« und rüstete sich für den weiteren Vormarsch in die angrenzenden Provinzen Chinas. Als das im Völkerbund auf Unmut und Ablehnung stieß, ignorierte Tokio die Kritik und verließ 1933 die internationale Staatengemeinschaft.

Die Ereignisse in der Mandschurei markierten einen Wendepunkt in der japanischen Politik. Die Armee war fortan wieder die bestimmende Kraft in der Politik, da sie sowohl inner- wie außerhalb des Kabinetts auf keine nennenswerte Opposition stieß. Faktisch wurde auch das Parteiensystem wirkungslos, als Mitte Mai 1932 junge Marineoffiziere Tokio einige Stunden lang terrorisierten und Premierminister Inukai Tsuyoshi ermordeten. Was folgte, war die Verletzung zweier wichtiger international eingegangener Verpflichtungen, nämlich die Marine nicht weiter aufzurüsten und Chinas Souveränität und territoriale Integrität zu achten. Zwar regte sich 1935 noch einmal Protest gegen den Kriegskurs der Streitkräfte, als eine Bewegung gegen Faschismus und Militarismus die Rückkehr zur parlamentarischen Regierungsform forderte. Liberale Kräfte im Diet, dem Parlament, attackierten öffentlich den Kriegsminister, ein Signal für Extremisten innerhalb der Armee, auf Revanche zu drängen. Ende Februar 1936 kam es zur offenen militärischen Revolte gegen die Regierung, an der sich etwa 1.500 Soldaten beteiligten. Wenige Tage darauf übernahm eine armeefreundliche Regierung das Zepter, die Meuterer kamen glimpflich davon, und fortan bestimmten ausschließlich militärstrategische Kalküle die Politik Tokios.

In vier programmatischen Leitlinien beschloss die japanische Regierung, das Land in die Lage zu versetzen, zur unangefochtenen hegemonialen Macht in Asien aufzusteigen. Und zwar erstens mit der Stärkung der Schwer- und Rüstungsindustrie. Zweitens mit der Integration der Mandschurei in die japanische Kriegswirtschaft. Drittens durch die »harte Position«, die kompromisslose Durchsetzung japanischer Interessen auf dem asiatischen Kontinent. Viertens schließlich mit der Sicherung strategischer Rohmaterialien, um das Land autark zu machen. Die zur Selbstversorgung benötigten Ressourcen waren hauptsächlich im insularen und kontinentalen Südostasien – vorrangig Ostindien (Indonesien) und Malaya sowie in Indochina – zu finden.

Dieses von der Armeeführung entworfene Programm bestimmte seit Mitte der 1930er Jahre die Politik Tokios. Der Begriff »harte Position« war ein beschönigender Ausdruck dafür, sich dauerhaft in China zu etablieren, sich der Rohstoffquellen in Südostasien zu bemächtigen und die UdSSR in Schach zu halten. Letzteres schloss die enge Kooperation beziehungsweise ein Bündnis mit Nazideutschland und dem faschistischen Italien ein, was durch die Unterzeichnung des Antikominternpakts Ende November 1936 realisiert wurde, der explizit gegen die UdSSR gerichtet war.

Wie bereits im Falle der Mandschurei nahm die japanische Armee einen Vorfall in der Nähe Pekings im Juli 1937 zum Anlass, in Nordchina einzumarschieren. Die USA und Großbritannien reagierten darauf mit ersten Sanktionsmaßnahmen und stoppten den Export von Flugzeugen, Flugzeugausrüstungen und später auch die Ausfuhr von Waffen, Munition, Aluminium, Eisen und Öl nach Japan. Außerdem unterstützten Washington und London die chinesische Regierung mit Darlehen, die ihren Sitz nach dem japanischen Überfall auf Nanking (1937/38) nach Chungking verlegt hatte.

Teil 2:  Restauration auf Raten


Rainer Werning, Sozialwissenschaftler und Publizist mit dem Schwerpunkt Südost- und Ostasien, schrieb auf diesen Seiten zuletzt am 17. August über die neue US-Besatzungsmacht in Japans vormaliger Kolonie (Süd-)Korea.





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