AK Sinti/Roma und Kirchen: 10 Jahre - Grußwort Strauß

Buraku, Sinti & Roma und andere Minderheiten

Der AK Sinti/Roma und Kirchen in Baden-Württemberg
feierte seinen 10. Geburtstag im Haus der Begegnung in Ulm

am 1. Juli 2009

 

Grußwort - Daniel Strauß, Vorsitzender des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma in Baden-Württemberg, Mannheim

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Daniel Strauß

Zukunft des "AK Sinti/Roma und Kirchen in Baden-Württemberg"

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erinnerung und solidarität


Grußwort und Anmerkungen zur Zukunft des AK Sinti/Roma und Kirchen in Baden-Württemberg

von

Daniel Strauß
Vorsitzender des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma Baden-Württemberg, Mannheim


Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Gönner, sehr geehrte Frau Prälatin Wulz, sehr geehrter Herr Pfarrer Schneiss! Ganz herzlich begrüßen möchte ich auch Herrn Prof. Solms, den Vorsitzenden der Gesellschaft für Antiziganismus-forschung, Herrn Dr. Lechner vom Ulmer Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg sowie die Herren Kataoka und Mizutani vom Buraku-Befreiungszentrum in Osaka und schließlich auch Herrn Pfarrer Hahn von der Dalitplattform ich freue mich sehr, dass Sie diesen weiten Weg zu uns gekommen sind.

 

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde; ich freue mich heute bei Ihnen zu sein und gemeinsam mit Ihnen das 10-jährige Jubiläum des Arbeitskreises Sinti und Roma in Baden-Württemberg zu feiern.



Ich sehe einen Tag mit einem anspruchsvollen undinteressanten Programm vor uns liegen, das uns von unterschiedlichen Perspektiven aus Einblicke nicht nur in die Aktivitäten des Arbeitskreises, sondern auch in die Lebenswirklichkeiten einer Minderheit zu geben vermag. Einer nationalen Minderheit der deutschen Sinti und Roma, die unter einem spezifischen Verhältnis, das ich als gesellschaftlichen Antiziganismus charakterisieren möchte, hier in Deutschland und Baden-Württemberg seit 600 Jahren ihre Heimat hat.

 


Meinen Beitrag habe ich mit dem Titel Erinnerung und Solidarität überschrieben. Er weist auf Mehrfaches: Einmal geht es wie es im Veranstaltungsprogramm heißt um die Solidarität zwischen den christlichen Kirchen und den deutschen Sinti und Roma, also auch um die Rolle des Arbeitskreises. Dazu möchte ich später noch einige Anmerkungen machen, denn es handelt sich in diesem Verhältnis ja nicht nur um die Gegenwart, sondern auch um eine Geschichte, die es zu erinnern gilt Herr Prof. Solms wird uns gewiss einiges darüber berichten.

Zum anderen und dies möchte ich als zivilisatorisches Fundament menschlichen Zusammenlebens begreifen geht es um die grundsätzliche Beschaffenheit des Verhältnisses zwischen Minderheit und Mehrheit, das ich eingangs als gesellschaftlichen Antiziganismus bezeichnet habe.

Dem Erinnern steht das Vergessen der Solidarität stehen der Ausschluss und die Vertreibung gegenüber. Wir erinnern eben nur einen Teil der Geschichte, wenn wir an die Errungenschaften der Moderne denken und nicht zugleich die barbarische Vertreibung und Verfolgung von Sinti und Roma mit einschließen.


Wir erkennen in der Dialektik von Modernität und Barbarei die im Völkermord, in den Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten ihren schrecklichsten Kulminationspunkt fand , dass Modernität, Fortschritt, Verbrechen, Gewalt und Unrecht zusammen gehören.

Es ist das Vergessen der prekären Fortschrittsbedingungen unserer modernen Zivilisation, das Unrecht zum scheinbaren Recht mutieren lässt. Dies kann historisch leicht an den beiden Minderheiten in der europäischen Diaspora, den Juden sowie Sinti und Roma, nachvollzogen werden. Minderheiten, die nie territoriale oder politische Ansprüche erhoben haben, für die als den Anderen das Getto, Pogrom, Vertreibung oder der Status des Vogelfreien vorgesehen war. Sie wurden zu Sündenböcken gestempelt, und dienten der Bevölkerung als Projektionsfeld ihrer eigenen, subjektiv unverkrafteten Anteile im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess.

Erinnern wir uns stichwortartig: Die Geburt der Zigeunerstereotypen ist untrennbar mit der Dynamik des westlichen Zivilisationsprozesses verbunden. Die Einwanderung der Sinti und Roma im 15. Jahrhundert fällt in eine Zeit des radikalen Umbruchs. Als epochale Ereignisse wären zu nennen: Hexenverfolgung, Religionskriege, die großen kolonialistischen Eroberungszüge, die Vernichtung der indigenen Kulturen Amerikas, das Heraufziehen der Bauernkriege und die Reformation.

Im Übergang von der Agrar- zur Kapitalwirtschaft konstatieren wir nicht nur ein spezifisches Armutsproblem, sondern auch die Formierung der Arbeits- und Disziplinargesellschaft. Hinzu kommen die Territorial- und Nationalstaaten-bildung. Beide Prozesse Formierung der Subjekte wie die Homogenisierung der Bevölkerung - laufen auf soziale Anpassung und Ausgrenzung hinaus.

Der Zwang, der davon auf das Individuum ausgeht, bedeutet sich-selbst-fremd-werden, sich dem krisenhaften Umbau politökonomisch und soziokulturell zu unterwerfen und die soziale, politische und kulturelle Identität umzubauen.

Eben diese Formierung des neuen Subjekts (als Untertan, Bourgeois, Citoyen),

sagt Franz Maciejewski, ist es, der die gesellschaftliche Konstruktion des Zigeuners wie ein Schattenbild folgt. Dieses Bild trägt die Handschrift der Machteliten ebenso wie die Spuren des Unbewussten in der Kultur. [1]

Sehr geehrte Damen und Herren, in dieses Schattenbild des Zigeuners ist das Selbstbild der Sinti und Roma nicht eingeschrieben. Und so wenig dieses Wort in unserer Sprache, dem Romanes, vorkommt, so wenig finden wir darin Spuren eines wahren Bildes unserer Kultur, unserer Menschen.

Das einzige, was zur Aufklärung beitragen könnte, wäre um noch einmal Franz Maciejewski zu zitieren die Anstrengung, die kulturell erzeugten und tradierten Zigeunerbilder als Selbstzeugnisse (der Mehrheit D.S.) zu lesen und in ihnen, als seien es Vexierbilder, die Momente der eigenen Fremdheit zu entdecken. [2]

Spätestens in diesem Moment wird offensichtlich, dass die Zigeunerbilder Rechtfertigungs- und Deutungskonstrukte der Mehrheit und ihrer Einrichtungen sind. Daher wenden wir den Blick von der Verfolgungsgeschichte der Sinti und Roma weg, hin zu den alten ungelösten gesellschaftlichen Widersprüchen und dem entlang der Geschichte verübten Unrecht und nicht zuletzt ihrem subjektiven Niederschlag bei den Menschen.

Das ist eben unerledigte Geschichte nicht aufgearbeitete. Nicht begriffene. Mögliche Lösungen in der Zeit wurden versäumt oder aufgeschoben. Ihre Folgewirkungen beschäftigen uns bis heute. Das vormals Verdrängte, das unter den Teppich Gekehrte, kehrt wieder, kriecht hervor in der Gestalt des Unheimlichen und Unverstandenen. So wiederholt sich die Geschichte in welchen Gestalten auch immer und das antiziganistische Verhältnis reproduziert sich blind weiter.

Die Vexierbilder des Zigeunerstereotyps überdecken die realen Lebenswirklichkeiten der betroffenen Sinti und Roma völlig. Dadurch wird auch das spezifische Verhältnis zwischen Minderheit und Mehrheit unsichtbar. Niemand nimmt es wahr.


Es gehört heute zum Allgemeinwissen, dass 68% der Bevölkerung die Sinti und Roma als Nachbarn ablehnen. Der Eurobarometer 2008 hält fest, dass 86 % der Bürger/innen keine Freunde oder Bekannte unter den Sinti und Roma haben; und 78% der deutschen Bevölkerung gehen davon aus, dass diese Minderheit große Nachteile ertragen muss.

Was wäre daraus zu lernen?

Nun: politisch korrektes Wissen über die Geschichte und Kultur der Minderheit ist gewiss unverzichtbar, und alles Wissen über die Minderheit macht manche vielleicht sogar zu Experten.

Allein aber die nächstliegende und vielleicht schwierigste Aufgabe liegt noch vor ihnen: das Wissen über sich selbst und in ihrer Rolle als Mitglied der Gesellschaft zu reflektieren. Zu begreifen, was sie tun oder getan haben.

 

Nur diese Selbstvergewisserung, die Klärung jener Momente eigener Fremdheit , das Eingestehen des Unrechts, das persönlich oder gesellschaftlich verübt wurde, die Dechiffrierung der Zigeunerbilder, das Durcharbeiten ihrer emotionalen und affektiven Elemente kann dazu führen, eine klare Distanz zur unbefragten Normalität zu finden. Das wäre der erste Schritt Einhalten, Aufhören, Nicht-Weitermachen.

Auf diese Weise wären die unbewussten Anpassungen an den Alltag aufzubrechen. Der Mutige, der hier ausscherte und  mit den alten Konventionen, den Vorurteilen und Klischees bräche, der  bliebe wohl allein und von der Allgemeinheit  verlassen.

Ich glaube sehr daran, dass erst dieses Alleinsein, dieses Für-Sich-Entscheiden die Tür zur Solidarität mit anderen öffnen kann. Solidarität ist keine Kampagne und kein Massenevent, sondern das bewusste Zusammenschließen vieler mutiger, sich selbst bewusster ICHs. Eine anerkennende Solidarität ist frei von wohlmeinenden Motiven und patriarchalen Gesten, sie kommt dem Anderen als einzigartigem Menschen auf gleicher Augenhöhe entgegen.

Wenn heute etwa das Ehrenamt gepriesen und zur medialen Kampagne gemacht wird, dann kommt dies zunächst recht unmittelbar und geschichtslos daher. Nicht dass es nicht notwendig wäre im Gegenteil:  Es soll die Menschen, vor allem die Jugend aufrütteln, damit sie Verantwortung und bürgerschaftliches Engagement neu entdecken und für sich übernehmen. Das heißt zugleich aber auch, dass gemeinsame elementare Werte verloren, in Vergessenheit geraten sind oder zumindest in Frage stehen. Die gesellschaftlichen Strukturen enormer sozialer Ungleichheit und ihre Rechtfertigungsmuster stehen wie die eigene Lebenspraxis diesen Werten diametral entgegen.

Sehr geehrte Damen und Herren, über den gesellschaftlichen Antiziganismus sprechen kann man nur, wenn man zugleich die Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten im Blick hat. Was dort kulminierte, war der existenzielle Bruch aller zivilisatorischen und menschlichen Regungen. Robert Antelme, ein Überlebender, drückt dies so aus:

Zu sagen, wir hätten damals das Gefühl gehabt, als Mensch, als Angehöriger der Gattung, in Frage gestellt zu werden, mag wie ... eine nachträgliche Erklärung anmuten. Aber es war genau das, was wir damals unmittelbar und ganz schmerzhaft erlebten, und es war übrigens auch das, genau das, was die anderen wollten.[3]

Antelme beschreibt unpathetisch und präzise den Prozess der Enthumanisierung in den Lagern, den Verlust und die Vernichtung alles Menschlichen. In der gewaltsamen Rückführung des Menschen auf das reißende Tier macht Antelme die Grenzen der Gattung Mensch deutlich. So beschreibt er nicht nur die unmenschliche Behandlung der Bewacher, sondern stellt auch den Schrecken im banal Alltäglichen, beispielsweise in der minuziösen, allmählichen Verwandlung eines Häftlings zum Kapo dar: Die subtilen Gesten der Differenz von den anderen Häftlingen, die Unterwürfigkeit gegenüber der SS, die zunehmende räumliche Distanz zu Seinesgleichen, die allmähliche Annäherung an die neuen Herren und schließlich das unausgesprochene Versprechen, die neue Rolle mit aller Macht auszufüllen.

Angesichts dieser Entmenschlichung heißt es in Adornos Erziehung nach Auschwitz: Auschwitz sei die Barbarei gewesen; und wir hätten unser Leben künftig so einzurichten, dass die Barbarei sich nicht wiederhole.

Nach der realen Zerstörung alles Menschlichen kann man nicht mehr intuitiv oder selbstverständlich auf zivilisatorische Übereinkünfte und Werte zurückgreifen. Angesichts der Katastrophe bleibt nur die permanente Infragestellung aller Alltagsgewissheiten, Überzeugungen und Wertmaßstäbe menschlichen Handelns. Zu dieser Reflexionsleistung gehört auch die Auseinandersetzung mit dem Antiziganismus und dem Antisemitismus. Das ist nach wie vor auch fast 70 Jahre nach dem Zivilisationsbruch die zentrale Aufgabe der Mehrheitsgesellschaft in ihrem Verhältnis zu den Minderheiten.


Aus dieser Geschichte lernen zu können, heißt bis heute, insbesondere von den Opfern zu lernen. Denn allein sie haben Zeugnis über jene Zerstörung alles Menschlichen abgelegt. Ein Zeugnis oder Eingeständnis auf Seiten der Täter ist mir bis heute nicht bekannt.

So mögen bei der Aufklärung über den gesellschaftlichen Antiziganismus vielleicht am ehesten Sinti und Roma helfen können. Eine gelungene Metapher hierzu meine ich bei einem Besuch von Buraku-Angehörigen vernommen zu haben. Sie verstehen Diskriminierung als eine Art soziale Krankheit, bei der die Betroffenen in gewisser Weise allein über die heilende Medizin verfügen. Insofern stehen an dieser Stelle nicht Fragen gesellschaftlicher Integration der Minderheiten zur Debatte, sondern ein gesellschaftlicher Heilungsprozess auf dem Weg zu einem humanen Miteinander.

Auf diesen steinigen Weg haben sich die Mitglieder des Arbeitskreises Kirchen und Sinti und Roma in vielfältiger Weise vor 10 Jahren aufgemacht. Trotz mancher Beschwernisse in den zurückliegenden Jahren haben die Mitglieder ihr Suchen nicht aufgegeben. Im Gegenteil haben sie beharrlich in den eigenen Gemeinden und Einrichtungen Überzeugungsarbeit geleistet und den kritischen Dialog auch mit unserem Verband gesucht und ich hoffe: auch gefunden. Dabei wurde gewiss erkennbar, dass heute jedes Individuum viel Erklärungslast auf dem Rücken trägt, nicht nur um die Vergangenheit zu verstehen, sondern auch die Widersprüche, Zwänge und Alltagsroutinen in der Gegenwart zu durchschauen. Also sich gerade nicht blind machen zu lassen von dem Getöse der Mächtigen.

Auf diesem Weg sind wir uns durch Zuhören, nicht durch Besser-Wissen näher gekommen. Daher sage ich gerne und mit großem Respekt vor dem unnachgiebigen Engagement der Arbeitsgruppe: Das Saatkorn ist in fruchtbare Erde gefallen, und es möge sich nun mehren auf allen Feldern kirchlichen Wirkens.

 

Vielen Dank!

 


[1] Franz Maciejewski, Elemente des Antiziganismus, in J. Giere, Die gesellschaftliche Konstruktion des Zigeuners. Zur Genese eines Vorurteils Frankfurt, Campus 1996:12

[2] Ebenda S. 12

[3] Robert Antelme, Das Menschengeschlecht, DTV München 1990:I