12. Juli 2012

Donnerstag, 12. Juli

In der vergangenen Woche schon hatten wir uns beim Rathaus von Tokaimura gemeldet und um einen Gesprächstermin beim Bürgermeister gebeten. Herrn Murakamis Name war uns schon in Heidelberg in einem Artikel der Japan Times begegnet. Darin wurde berichtet, dass er ein ausgesprochener Gegner des AKW in seiner Stadt sei und für eine Stilllegung aller AKWs in Japan eintrete. Ein freundlicher Sekretär hatte uns damals wissen lassen, dass Herr Murakami sehr beschäftigt sei, aber nach einem Termin suche um uns zu empfangen. Vor zwei Tagen wurde uns mitgeteilt, dass wir am 12.7., also heute, willkommen seien. Eine Stunde habe er für uns reserviert.  

Nun machten wir uns also auf den Weg nach Tokai-mura zum Gespräch mit

Bürgermeister MURAKAMI Tatsuya 村上 達也

Das Rathaus von Tokai (etwa 37.000 Einwohner) liegt ein wenig abseits der Landstraße No. 6, auf der wir von Katsuda kommend nur von vielen Ampeln begleitet durchgefahren sind (das Haus unserer Verwandten, wo wir derzeit untergekommen sind, liegt nur 500 m abseits der Durchgangsstraße). Sie zieht sich schnurgerade durch die Städte Hitachinaka, Tokai und weiter nach Hitachi. Wir kommen vorbei an einer großen Werbefläche für Porsche in der Provinzhauptstadt Mito, aber der Autohändler hat inzwischen geschlossen. Wir sehen die Einfahrt zu dem 1999 havarierten Werk JCO, wo zwei Menschen zu Tode kamen. Der älteste Bruder von Kiyoko wohnt nur etwa 3 km entfernt. Wir hatten damals schon große Angst. Aber nach einigen Jahren wurde das Werk wieder geöffnet, bekam die Erlaubnis, seine Produktion wieder aufzunehmen.

Eine andere Strasse führt ab zum großen AKW Tokai, das der Stadt so viel Geld zum Wohl der Bürger gebracht hat. Der Band „50 Jahre Tokaimura" (1954-2004)berichtet ausführlich davon. Die Bilder aus den ersten Jahren erinnern mich an meine ersten Jahre in Japan, die ich – nach der Sprachschule in Shibuya, Tokyo – hier in Hitachinaka (zusammengelegt aus Nakaminato, der Stadt mit dem großen Fischereihafen, und Katsuda, der Stadt mit einer riesigen Niederlassung der Fa. Hitachi) verbracht habe. Da gab es den Flugplatz aus der Kriegszeit, den später die US Army übernommen hat.

Auf seinem riesigen Gelände entstand mit amerikanischer Hilfe das erste Kernforschungszentrum Japans, später das AKW Tokai. Später auch entstanden große Parkanlagen, ein Stadium für Sportvereine und vieles mehr. Aber in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts war hier noch alles Landwirtschaft und Kleinhandwerk, die Straßen noch nicht befestigt und die teils weiten Wege zur Arbeit oder zur Schule wurden zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt.

Aus dem Gespräch:

Da der Mayor noch ein Problem klären muss, schickt er uns eine Mitarbeiterin, die Deutsch spricht, Frau Sato, mit der auch Kiyoko gleich ins Gespräch kommt. Wenige Minuten später werden wir gerufen.

Herr Tatsuya MURAKAMI empfängt uns in seinem schlichten aber geräumigen Büro, kommt uns lächelnd entgegen, hält mein Meishi (Visitenkarte) in seiner Hand. In großer Gelassenheit begegnet er den Fremden, von denen er nur weiß, dass sie aus Deutschland kommen.

Seit 1997 sei er nun Soncho, Bürgermeister des Dorfes Tokai, also 15 Jahre und in der 4. Periode. (1997 – 2001 – 2005 – 2009). Ob er zur nächsten Wahl noch ein Mal antritt?

Das Erdbeben war schon schlimm genug. Wir sind z.B. auf der Landstraße Nr. 6 gefahren, die auf der ganzen Strecke immer wieder erneuert werden musste: nach dem Erdbeben waren alle Deckel der Abwasserversorgung so hoch über der Fahrbahn gelegen, dass man mit dem Auto nicht fahren konnte. An anderen Stellen gab es tiefe Einbrüche, Absenkungen, Spalten. Manche Häuser waren einsturzgefährdet. Viele Dächer auch heute noch nicht repariert, nur notdürftig mit blauen Planen abgedeckt. Große Teile der Stadt standen unter Wasser: der Strom fiel aus, die Wasserleitungen geborsten, kein Telefon, auch kein Handy konnte genutzt werden. Erdbeben und Tsunami allein waren schon eine große Herausforderung. Aber dann kam noch die Gefahr durch das AKW Tokai hinzu.

Die große Welle: Tsunami.
Das Problem ist zunächst die Stromzufuhr, die von außen kommt. In Tokai hat man 3 Leitungen, eine davon hat das Erdbeben zerstört.

Daneben gibt es auch eine mit Diesel betriebene Anlage zur Stromerzeugung. Die funktionierte die ganze Zeit. Die Stromstärke ist unterschiedlich: der von außen zugeführte Strom ist um ein vielfaches stärker.

Die Wand um die Pumpanlage ist 6,1 m hoch. Die Welle kam mit 5,4 m in Tokai an. Es fehlten nur 70 cm, dann wäre auch Tokai überspült worden. Unausdenkbar, was dann hätte geschehen können. Ein Kühlung nicht mehr möglich – was dann passiert, sahen wir in Fukushima. Wenn die Brennstäbe an die Luft gelangen, beginnt der „melt down". Das Zircosium in den Brennstäben reagiert mit Sauerstoff.

Anschaulich und auf das Wesentliche reduziert berichtet der Bürgermeister vom AKW und den Tagen um den Unfall in Fukushima. Fast wäre es ja auch in Tokai zu einem ähnlichen Unfall gekommen.

 Ein Physiker aus Karlsruhe, früheres Kernforschungszentrum, besuchte Tokai und seinen Bürgermeister Murakami: ob letzterer denn wisse, wie gefährlich diese Situation sei. Eine schnelle Explosion könne alles zerstören. 2.800° Celsius (?).

2 Tage nach dem Erdbeben aber hatte man die dritte Stromleitung repariert. Es kam wieder genügend Strom von außen. Die Explosion war verhindert worden. Das Problem, für die Menschen seiner Stadt und weit darüber hinaus Verantwortung zu tragen, lässt ihm keine Ruhe. Wir merken beim Zuhören, wie diese ihn damals und heute noch belastet.

Der Bürgermeister trägt Verantwortung für die Menschen im Umkreis seiner Stadt:
Im Umkreis von 10 km leben 250.000 Menschen
Im Umkreis von 20 km leben 750.000 " (Mito!)
Im Umkreis von 30 km leben 1.000.000 Menschen
Aber die Welle, die hier ankam, war nicht so hoch, wie weiter im Norden, wo sie ganze Dörfer ins Meer wegspülte und das AKW Fukushima I überrollte.

Die Wand der Pumpanlage wurde erst vor 2 Jahren erhöht. Eine Öffnung erst 2 Tage vor dem Erdbeben geschlossen.

Erst 2 Wochen später hat Bürgermeister Murakami erfahren, wie heiß der Reaktor geworden war, dass der Wasserspiegel immer wieder gestiegen und wieder gefallen war. Zu diesem Zeitpunkt wurde ihm dann gesagt, es sei alles in Ordnung.

Am 15.3., also 2 Tage nach dem Unfall, war alles im AKW Tokai wieder normal. Es hatte keine Explosion gegeben, die Stromversorgung war wieder gesichert, Wasser wurde in ausreichender Menge zugeführt.

Aber rätselhaft bleibe, warum gerade hier in dieser erdbebengefährteten Zone so viele AKWs gebaut werden. Man habe die Lage völlig falsch eingeschätzt. Schon hier liege menschliches Versagen vor. Atomkraft sei nicht beherrschbar.

Frau Bundeskanzlerin Merkel habe die Lage richtig erkannt, meint Herr Murakami, und sie habe gehandelt: 7 AKWs sofort stilllegen lassen usw. Die jap. Regierung habe einfach nicht die Intelligenz, die Situation richtig einzuschätzen. Daraus folge das große Misstrauen im Volk. Es fehle in Japan ein grundlegendes Prinzip der Verantwortung. Hier gelte nur, was Geld bringt. Damit sei die Urteilskraft entscheidend eingeschränkt.

In Japan gibt es 17 Orte mit AKWs. Alle diese Bürgermeister sind nach wie vor für AKW. Allein Tokai ist kritisch eingestellt und hat sich gegen Atomkraft gewandt.

Die Bürgermeister von Fukushima haben ihre Haltung ein wenig verändert gegenüber früher. 5 von ihnen gibt es, 2 stellen sich gegen die Atomkraft.
In allen Regionen ging es vor allem um Geld.

Murakami wurde bei den Wahlen von 2005 und 2009 als AKW-Gegner gebrandmarkt, denn „ohne Geld geht es nicht". Dennoch wurde er gewählt.

Im Stadtparlament stehen sich etwa je die Hälfte der Ab geordneten gegenüber. Und um die Finanzen der Stadt steht es nicht besonders gut. Vor allem sind Arbeitsplätze in Gefahr, sollte das AKW stillgelegt werden.

Jedoch, der Bürgermeister ist fest davon überzeugt, dass auf längere Frist gesehen die AKWs abgebaut werden, man kann sich nicht darauf verlassen.

Die Reinigung vom Caesium sei kaum möglich. Und selbst wenn dies weitgehend geschehen sollte, so sei doch der Ruf der günstigen, gefahrlosen Stromgewinnung durch AKW verschwunden.

In Fukushima würden 0,6 microsivert gemessen. Ähnlich wie bei einer Röntgenbestrahlung. Aber dort lebten 70% der Leute damit, täglich.

Als er ein Heranwachsender war, habe er seinen Vater gefragt, was er denn gegen den 2. Weltkrieg unternommen habe, warum er nicht dafür gesorgt habe, dass der Krieg erst gar nicht entsteht.
Darauf hat er von seinem Vater keine Antwort bekommen.
Heute, 30 Jahre später, steht er in derselben Situation. Wenn er von seinen Kindern und Enkeln gefragt wird, warum er nichts gegen diese große Gefahr unternommen habe, kann er ihnen keine Antwort geben.

Darum hängt das ganze Problem der Atomkraft und ihre Nutzung in Japan ganz eng zusammen mit der nicht aufgearbeiteten Geschichte des 2. Weltkrieges und dem Geist, der dazu geführt hatte. Japan muss endlich damit anfangen, seine Geschichte wahr- und ernst zu nehmen.

Besichtigung? Normalerweise sei keine möglich.
Wenn er Druck macht, gibt es vielleicht doch eine Erlaubnis. Und wenn wir das wirklich wollen. Auch das stillgelegte AKW kann besichtigt werden. Der Bürgermeister will uns bei beidem helfen. Aber wir verstehen eh nichts von der Technik und haben keine Zeit. Wir sollten schon vor 30 Minuten beim nächsten Gesprächspartner sein, dem Priester in einem buddh. Tempel in Tokai. Später erst erfahren wir, dass der Bürgermeister im Haus gegenüber dem Tempel geboren worden ist, dass er heute im „Aufsichtsrat" des Tempels mitarbeitet und heute auch ganz in der Nähe wohnt.

Zum Abschied erhalten wir noch eine wichtige Broschüre: „Das große Ostjapanische Erdbeben – Erfahrungen". 39 Bürger von Tokai haben hier ihre Gedanken und Gefühle niedergeschrieben, die mit dem großen Beben am 11. 3. 2011 zusammenhängen. Dazu enthält der Band einen Dokumententeil mit vielen Statistiken u.a. zur Situation bei landwirtschaftlichen Produkten, in den Parks der Stadt, in den Kindergärten und Schulen. Die Daten wurden durch regelmäßige Messungen erhoben. Fotos und Graphiken belegen das Ausmaß des Reaktorunfalls von Fukushima. Die Broschüre wurde erst im Juni der Öffentlichkeit vorgestellt.

Nachtrag:
Einwohner Tokai-mura 2012: ca 37.000

Ibaragi-Ken = 2.968.865 (2011)

Nachbarstädte:

Hitachinaka = 157.000
Hitachi =        193.000
Naka-shi =       54.000
Mito-shi =       269.000)

Erhaltene Schriften:
Deai Tokai - 出会いとうかい、2007. The Summary of Tokai Village.

Tokaimura 50nen no TOKI - 東海村50年の時, 2004. Tokai Village 50-year Anniversary Municipal Handbook

Higashi Nippon Daishinsai Taiken-Ki  東日本大震災体験記、2012. Bilder und Geschichten, Erfahrungen und Erinnertes

Tokaimura no Genshiryoku - 東海村の原子力, 2011.3